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Mittwoch, 28. September 2016

Mehr als PVC

Ein Mann schreibt ein Buch über sein Leben. Ein anderer Mann schreibt dazu ein Vorwort. Schon im zweiten Satz fragt er „Will ich das lesen?“.
Eine durchaus berechtigte Frage, die sich jeder stellt, der dieses Buch in der Hand hält. Er beantwortet diese Frage am Ende seiner Einleitung. Mit einer Antwort, die wahrscheinlich ebenfalls jeder geben würde, der das Buch immer noch in der Hand hält: „SCHEIßE,UND OB ICH DAS LESEN WILL!“.

Bei dem erstgenannten Mann handelt es sich um Gerrit Meijer. Gitarrist bei PVC, einer der allerersten Punkbands West-Berlins. Sowas trägt schnell zur gar nicht selbst gewollten Legendenbildung bei. Die - Herr Meijer wird es sehr gut wissen – kann manchmal mehr Fluch als Segen sein.
Segen, weil sich PVC dadurch, dass sie nach einem VIBRATORS-Gig 1977 mit ihrer Version von Punkrock loslegten, auf ewig ins popkulturelle Geschichtsbüchlein Berlins geschrieben haben. Dazu kommt der Umstand, dass sie auch einige Hits auf der Pfanne hatten, die absolut zum Kanon der Berliner-Punkhistorie gehören. „Berlin by Night“ oder „Wall city Rock“ kennt jeder, der mindestens ein Mix-Tape mit Berliner Punkbands am Start hatte.
Wobei sie das letztere auch gern mal als Label für ihren Sound benutzt haben – um sich eben nicht einfach als average Punkband abstempeln zu lassen. Dafür waren PVC auch immer viel zu eigensinnig, zu individuell und gegen jede Szenekuschelei allergisch.



Der Fluch, der so eine Position mit sich bringt, ist eben, dass der Name Gerrit Meijer auf ewig mit den drei Buchstaben PVC verbunden sein wird. Daneben verblasst vieles, was er sonst musikalisch gemacht hat. Nachdem PVC im Laufe der Zeit zu einer On/Off-Band mutierten, kooperierte Meijer immer wieder mit unzähligen Musikern und Musikerinnen. Musikalische Offenheit, bloß weit weg von jedem engstirnigen Punk-Nietenkaiser-Klüngel, war dabei die Direktive.



Was zu allerlei Projekten führte, die vielleicht einem kleineren Zirkel in West-Berlin bekannt waren, über einen lokalen Status aber nie so recht hinaus kamen. White Russia? Commando Love at least? Rouge et Noir (mit Marianne Rosenberg)? Die amüsante Koop mit Bela B. und Wiglaf Droste? Alles eher dem interessierte Modelleisenbahner bekannt. Auch PVC gerieten irgendwann etwas in Vergessenheit, was wohl den vielen Besetzungswechseln und langen Auszeiten verschuldet war. Trotzdem war die Band immer ein nicht zu unterschätzender Einfluß für nachwachsende Berliner Combos – nicht zuletzt für die frühen Tage der besten Band der Welt.



Da Punk aber wie viele andere Genres mittlerweile einer gewissen Historisierung ausgesetzt ist, wird PVC und auch der Name Gerrit Meijer immer mit dem Siegel der „ersten“ Berliner Punkband behaftet sein. Dabei wird oft vergessen, dass Gerrit mit „der“ Szene und ihren zuweilen recht konservativen Sounderwartungen nie wirklich viel anfangen konnte, was er zuweilen auch mal ganz direkt kommunizierte.
Das hat vielleicht etwas damit zu tun, dass seine musikalische Sozialisation schon viel früher begann. Die allerersten Banderfahrungen machte Meijer schon in den 60ern. Natürlich mit einer Beatband, The Voodoos. Die könnte man wahrscheinlich heute jedem Plattendigger als echtes Berliner Garage-Rock-Nugget verkaufen.

Als das bunte Punkbonbon 1977 richtig knallte, war Gerrit schon satte 30 Jahre alt. Für den Teilnehmer einer frisch aufkommenden „Jugendbewegung“, ein geradezu methusaleskes Alter. Eins, in dem viele andere schon das innere Eigenheim mit festen musikalischem Maschendrahtzaun fertig gebaut haben. Für Meijer ging der Spaß dann erst richtig los. Sich auf was neues einzulassen, sich neu zu erfinden war für ihn aber nie das Problem.

Auf die Einzelheiten dieser wilden "salad days" des West-Berliner Punkrocks will ich hier gar nicht weiter eingehen. Dazu ist schließlich dieses Buch da.
Ich habe für „Berlin, Punk, PVC“ drei Tage gebraucht, um es komplett zu lesen. Das ich es quasi in einem Stück eingeatmet habe, lag an zwei Dingen. Zum einen gab es vor einigen Jahren ein Interview mit Gerrit im Renfield. Weil's so nett war, kam er dann auch noch für eine SubCult-Radioshow ins Studio. Schon damals teilte er mir mit, dass er an seiner Biografie schreibe und ließ mir netterweise sogar das Manuskript als Datei zukommen. Dass da also ein Buch in Vorbereitung war, das ein wichtiger Mosaikstein im großen und ganzen Bild der West-Berliner Musikszene sein könnte, ahnte ich schon. Von daher war ich eh daran interessiert, wie das Endprodukt aussehen würde.



Zum anderen liest sich diese Biografie auch sehr gut und flott durch. Langatmige Passagen finden sich kaum, da folgt eine Episode aus dem Meijer'schen Leben auf die andere. Man könnte eventuell einwenden, dass es an manchen Stellen noch etwas ausführlicher hätte sein können. Gerrits Post-PVC-Zeit wirkt teilweise etwas zerklüftet. Es geht von einem Projekt zum nächsten, zwischendurch eine Reunion seiner bekanntesten band, dazu gibt es die "Pogo Dancing"-EP mit Bela B. Und 2005 die Reunion mit völlig neuen Musikern an Gerrits Seite. Ich hatte allerdings teilweise das Gefühl, dass dazwischen recht große zeitliche Abstände liegen. Es wäre interessant gewesen, da noch mehr zu erfahren. Auch fällt es ab und an schwer, die Übersicht über all die Bands zu behalten, bei denen Gerrit involviert. Eine übersichtliche Diskografie mit zeitlicher Einordnung als Anhang hätte die ganze Sache sicher noch runder gemacht.



Hinzu kommt, dass Gerrit Meijer natürlich in erster Linie Musiker ist. Darauf liegt ein Schwerpunkt dieses Buchs. In einer Biografie geht es aber natürlich auch um das Leben, das Private, Beziehungen, Jobs und die Wahrnehmung der Welt, in der einer lebt. Da fällt es beispielsweise auf, dass die Frauen in Gerrits Leben nur recht kurz als Personen angerissen werden. Hier eine langjährige Beziehung, dann irgendwann die nächste. Die Frauen im Leben des Gerrit M. Bleiben dabei immer ein wenig blass. Ebenso werden dramatische Ereignisse, wie beispielsweise der Tod von Knut Schaller, dem Original-Bassisten von PVC, recht knapp und fast schon beiläufig abgehandelt.



Was dagegen sehr gut vermittelt wird, ist das Bild eines jungen, musikverrückten Typen im West-Berlin, der sich neben der Musik mit allerlei Jobs durchs Leben schlägt. Vieles was da erzählt wird, klingt heute recht amüsant, auch weil man sich gewisse Arbeitsbedingungen und Verhaltensweisen heute nicht mehr so recht vorstellen kann. War halt alles Rock'n'Roll irgendwie. Laut, wild chaotisch und in der Blase West-Berlin oft auch ziemlich nihilistisch. Und gut und kurzweilig geschrieben.
Um also noch mal auf die Frage des Vorwortschreibers, kein geringerer als Bela B. Übrigens, zu kommen: Will ich das denn lesen? Scheiße, natürlich will ich das auch lesen!

Gary Flanell



Die erste Vorstellung von "Berlin, Punk, PVC" mit Gerrit Meijer gibt's am 13.10., 19.00 Uhr in der Milchbar, Manteuffelstr. 41 , Berlin Kreuzberg.

Weitere Termine für Gerrit-Meijer-Lesungen:
30.10. 2016, 19 Uhr, Schokoladen, Ackerstraße 169, Berlin-Mitte
29. 11.2016, 19 Uhr, Pinguin Club, Wartburgstraße 54, Berlin-Schöneberg

Gerrit Meijer:
Berlin, Punk, PVC - Die unzensierte Geschichte,
Eulenspiegel-Verlag, Edition Neues Leben,
256 S., ISBN 978-3-355-01849-4

Montag, 5. September 2016

Will he play in Peoria? - Das Allerletzte zu GG Allin

So richtig ins Rollen kam die ganze Scheiße am 31. Juli 1985 in Peoria, Illinois.
GG Allin war zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre als zerrupfter Punkrock-Einzelkämpfer im Nordosten der USA unterwegs. Glaubt man der gut recherchierten Früh-Discographie auf der TERMINAL-BOREDOM-Homepage, war Allin zunächst eine wandelnde Soloshow, die live mit Hilfe von Playbacks seine Songs aufführte. Nach dem Ende der JABBERS, mit denen er Ende der 70er einige recht melodiöses Punkrockhits eingespielt hatte, verlegte er sich darauf, seine Ideen in verschiedenen Projekten zu realisieren. War GG auf Tour, konnte es gut sein, dass er das Ensemble für den nächsten Gig aus lokalen Musikern rekrutierte, die eben einfach zur Stelle waren. Sex und Gewalt in allen möglichen, auch absurden Variationen, waren damals schon sein Hauptthema. Seine Tapes kursierten in diversen Plattenläden dieser Gegend des Landes, sorgten aufgrund ihrer schlechten Aufnahmequalität bei den lokalen Punks aber eher für Stirnrunzeln. Man könnte GG Allin also neben der musikalischen Ordnung (Punkrock) auch gut der Outsider Music zurechnen.



Der Gig in Peoria markierte dabei eine neue Phase in GG's Auftreten. Zusammen mit den beiden lokalen Acts HATE (deren Sänger Bloody F. Mess zeitweise recht engen und freundschaftlichen Kontakt zu GG Allin hatte und mit ihm auch gemeinsam auf Tour war) und einer Straight Edge-Band namens CAUSTIC DEFIANCE spielte GG Allin in einem Saal der Veterans of Foreign Wars (VFW). Stunden zuvor hatte er eine ganze Packung Abführmittel zu sich genommen. Das Ergebnis ließ er nach wenigen Songs auf die Bühne knallen. Ungläubiges Entsetzen, Aufruhr und spontanes Fluchtverhalten waren die nachvollziehbare Reaktion bei den anwesenden Kriegsveteranen, Punks und tourenden Kollegen. Da sich GG zu all dem auch noch mit seiner eigenen Scheiße einrieb, hielt er die anwesenden Organisatoren und Türsteher davon ab, ihn einfach von der Bühne zu prügeln. Der Abend endete mit einer wilden Flucht im HATE-Bandbus bis zur abgeranzten Wohnung von Bloody, wo schon bald auch die Bullen eintrafen. Bloody wurde wegen Marihuanabesitzes festgenommen, GG Allin zog im folgenden weiter nach Texas, um dort mit den TEXAS NAZIS ein Live-Album einzuspielen. Mit dieser Fäkal-Performance, die von seiner Seite durchaus kein Zufall war, legte er den Grundstein für seine kommende Karriere. Denn die öffentliche Darmentleerung auf der Bühne wurde seitdem zum festen Teil seiner Bühnenshow.



Cut. Im Sommer 1993 sitze ich mit ein paar Freunden im Englischen Garten in München. Wir nehmen in der bayerischen Hauptstadt am Evangelischen Kirchentag teil. Der Kirchentag an sich interessiert uns nicht so wirklich, aber die Aussicht, günstig eine Woche lang in einer Großstadt die Nacht zum Tag zu machen, ist so verlockend, dass wir uns gerne über die Jugendgruppen unserer Gemeinden dort einzecken. Wir liegen auf einer Wiese und trinken mit ein paar Metal-Typen, die aus ähnlichem Anlass hier sind, palettenweise Dosenbier. Zur Abkühlung waten wir von Zeit zu Zeit in den nahegelegenen Bach. In meinem Armeerucksack habe ich zwei Platten, die ich wenige Stunden zuvor gekauft habe. Es sind meine ersten beiden GG-Allin-Alben, die „Eat my Fuc“ und die „Freaks, Faggots, Drunks and Junkies“-LPs. Ich bin ein wenig stolz und hoffe, die beiden LPs sicher nach einer Woche wilden Feierns nach hause bringen zu können, was im nachhinein in auch sehr gut geklappt hat. Stolz war ich auch, weil diese GG-Platten etwas waren, was in dem Haufen der Leute, mit denen ich rumhing, noch nicht wirklich bekannt war. Punk hörten alle irgendwie – aber GG Allin eher nicht.



Dabei ist es nicht so, dass ich die Platten auf gut Glück gekauft hätte. Meinen ersten Kontakt zu GG Allin hatte ich durch Becki. Wir spielten zusammen in einer Band, er Gitarre, ich Bass. Becki kannte ein paar Punks, deren Plattensammlung weit größer war als meine. Eines Tages brachte er ein GG-Allin-Tape mit zu unseren Bandproben in seinen Partykeller. Es war faszinierend: Die Songs klangen scheiße. Die Texte waren total bescheuert und selbst für uns Typen, die mit leidlichen Englischkenntnissen ausgestattet waren, so absurd und wild verständlich, dass wir nur die Augenbrauen hochziehen konnten: „I wanna fuck your brains out“. „Cuntsucking cannibal“. „Fuckin the dog“. „I wanna rape you“ mit seinem wilden Gekeife am Ende des Songs. Dazu diese wirklich beschissenen Aufnahmen. Es war irre. Für uns pickligen Mini-Punks das bescheuertste, was man von sich geben konnte. Da konnten Gang Green einpacken. Bad Religion sowieso. Frank Zappa mit seinen anzüglichen Texten und seinen ausgefeilten Kompositionen erst recht. GG Allin zerstörte alles. Es war roh, es war scheiße, es war unglaublich. Aber irgendwie auch... geil.



Aber was war es, was GG Allin für mich so interessant machte? Warum fand ich diesen Typen so faszinierend? Und warum gab und gibt es neben mir ebenso viele Leute, die sich als Fan dieser Pottsau beschreiben?

Zu Beginn der 90er hatte man von GG Allin in Deutschland noch recht wenig gehört. Natürlich gab es Gemunkel, dass es da diesen verrückten Typen gab, der bei Konzerten mit seiner eigenen Scheiße um sich schmiß und Leute verprügelte. Auch kursierten einige verschwommene Liveaufnahmen auf VHS-Kassetten. Damit bewegte sich GG Allin in einer Liga mit Horrorfilmen wie „Gesichter des Todes“ oder „der „Tanz der Teufel“-Reihe. Jeder kannte irgendjemanden, der sowas auf Video hatte und es war ein großes Ereignis, wenn man mal eine verrauschte, verschwommene Kopie der Kopie der Kopie davon zu Gesicht bekam. Ähnliches galt auch für die Musik. GG-Allin-Platten wurden hierzulande eher schlecht vertrieben, also musste man auf Kumpels bauen, die irgendwo ein paar Songs auf Tape hatten. Da waren dann meist nur die Hits vertreten, längst nicht komplette Alben oder Singles. Die Platten kamen zu dieser Zeit nur sehr langsam aus den USA rüber. Dabei war es wohl kein Zufall, dass ich gerade in München an ein paar Platten von ihm gekommen bin. Denn dort existierte das Label Starving Missile, das schon 1985 eine Split-LP von GG Allin & The Scumfucs und den amerikanischen ARTLESS um den MAXIMUM ROCK'N'ROLL-Schreiber Mykel Board herausgebracht hatte. Da ist es nicht so abwegig, dass auch weitere Alben zunächst den Weg in die Plattenläden der bayerischen Hauptstadt fanden.



Heute kann man sich einen guten Überblick über GG's Diskografie bei Wikipedia verschaffen. Es zeigt sich, dass der Mann eine geradezu unübersichtlich riesige Menge an Releases hat. Unzählige Singles mit immer wieder neuen Bands auf irgendwelchen obskuren nordamerikanischen Labels. Schaut man sich heute bei Discogs die GG-Allin-Seite an, werden derzeit 109 Veröffentlichungen gelistet. Dabei waren das bei weitem nicht alles neue Songs. Oft gab es Re-issues von älteren Songs, Neuaufnahmen oder Live-Tapes. Vieles davon sind Bootlegs und Live-Aufnahmen, manchmal sogar Mitschnitte vom Soundcheck irgendeines Konzertes. Was zeigt, dass die Vermarktung von GG Allin 23 Jahre nach seinem Tod immer noch seltsame Blüten treibt.


Die erste Veröffentlichung, die GG Allins Treiben richtig bekannt machte, war „Hated in the Nation“, eine Compilation auf dem New Yorker ROIR-Label aus dem Jahr 1987. Eigentlich sollte dies ein Livemitschnitt werden, da aber GG-Shows meist schon nach drei Songs abgebrochen wurden, entschied man sich für eine Sammlung älterer Songs und den Mitschnitt eines Gigs im New Yorker Cat Club. Für diesen Abend wurde eigens eine Backing Band für GG zusammengestellt, bei der J Mascis von Dinosaur Jr. Gitarre spielte. Eine Erfahrung die Mascis später in Interviews als „quite uncomfortable“ beschrieb.



Aber selbst „Hated...“ war hierzulande erstmal nicht gut zu kriegen. Eigentlich wussten wir also gar nichts von diesem Typen. Es gab nur Gerüchte. Aber all diese wilden Gerüchte, diese Unschärfe der Figur GG Allin machten ihn umso interessanter. Man konnte es kaum glauben. Schiß der wirklich auf die Bühne? Rieb sich sich dann mit seiner Scheiße ein? War der wirklich ununterbrochen auf Droge? Schmiß er dann wirklich mit seinen Exkrementen umher? Waren alle Songs voller Gewalt, Menschenhass und Fantasien über sexuelle Absurditäten? Und wer waren eigentlich die Typen, mit denen er Musik machte? Sah der Bassist, GGs älterer Bruder Merle, mit Hitler-Schnäuzer, Kaiser-Wilhelm-Koteletten, Glatze und John-Lennon-Sonnenbrille wirklich so bizarr aus wie das in den schlechten Videos zu erkennen war? Und spielte der Trommler wirklich immer nackt? Und hieß wirklich Dino Sex? War das alles ein – zugegeben – ziemlich weit getriebener Witz, war das besonders schräger Humor oder meinten die das wirklich Ernst? Es war für uns nordrhein-westfälische Vorortbewohner kaum vorstellbar, dass ein Mensch sich wirklich so aufführte. Ob GG Allin wirklich so drauf war wie in den im Umlauf befindlichen Ton- und Bilddokumenten und ob er IMMER so drauf war, - das war die Frage, die mich damals sehr beschäftigte. Dieser Typ war wild und er war unberechenbar. Das war das Bild, das wir von ihm hatten. Und das er selber kreierte. Und seine Musik war nicht an jeder Ecke zu kriegen. Diese Distinktion unterschied den Kenner vom Konsumenten. Glaubte ich damals zumindest.

Es macht Sinn, GG Allin mal in einem gesellschaftlichen Rahmen seiner Zeit zu betrachten. Als er anfing Ende der 70er Musik zu machen war die erste Punkwelle eigentlich schon wieder verebbt. Als GG's Bekanntheitsgrad in den 80ern langsam anstieg, waren die USA ein streng konservativ regiertes Land, deren Bevölkerung recht prüde Sexual- und Moralvorstellungen hatte. Ronald Reagan war republikanischer Präsident, die eigene Rolle als tonangebende Weltmacht, nicht nur politisch, sondern auch kulturell, war in den USA unumstritten. Dazu kam eine extrem glatt gebügelte Mainstreamkultur, die subversiven Spuren von Punk- und Hippiebewegung waren glattgewischt.
Pop in den 80ern, davon muss man gar nicht viel reden: Fönfrisuren und Schulterpolster, in den Hitparaden ultra glatt produzierte Popmusik. Da passt es gut ins Bild, das 1985 das viel kritisierte PMRC von Tipper Gore (die damalige Frau des späteren demokratischen Vizepräsidenten Al Gore) gegründet wurde. Jenes Komitee, die sich anmaßte, Eltern und Kindern vor gewalttätigen, scheinbar obszönen oder anstößigen Songtexten warnen zu müssen und durchsetzte, dass Platten, deren Lyrics gegen die PMRC-Leitlininien verstießen, mit einem „Parental Advisory“-Sticker auf dem Cover versehen werden mussten. Dass dieser Sticker später fast schon verkaufsfördernd auf gewisse Platten wirkte, ist eine andere Geschichte.
In so einer Stimmung konnte einer wie GG Allin zwar gut provozieren, blieb aber zunächst ein regional berüchtigter Freak. Trotzdem bastelte er weiter an seiner Figur des Rock'n'Roll-(Un-)Tiers. Ein Typ, der in einem der bevölkerungsärmsten Countys von New Hampshire aufwuchs, seine Jugend in einem sehr schwierigen White-Trash-Umfeld mit einem psychisch instabilen und religiös fanatischen Vater verlebte und im Laufe der Jahre eine sehr nihilistische Einstellung zur Gesellschaft entwickelte.

Anfang der 90er war das Phänomen GG Allin dann soweit gediehen, dass er auch über die Punkszene hinaus ein Begriff war. Das skandalträchtige Auftreten machte ihn auch für die Medien interessant und so war er mehrmals zu Gast in Talkshows, die sich gut auf Confro-Talk (z.B. die href="">Jerry Springer Show) verstanden. Trotz der immer wieder geäußerten Verachtung aller gesellschaftlichen Normen war er sich für solche Auftritte nie zu schade und hat sie auch nicht wirklich abgelehnt. Die Aufmerksamkeit, die ihm ein Platz auf einer Talkshowbühne brachten, waren als Ego-Futter für GG Allin wohl zu reizvoll, um darauf zu verzichten. So gesehen war es eben auch nur alles Showbiz.



Klar gibt es heutzutage viele, die sagen, dass die 80er gerade für Punk und Hardcore eine sehr fruchtbare Zeit waren, weil sich dort viel unabhängige Netzwerke und Strukturen bildeten. Aber auch innerhalb der Punkszene war GG Allin ein Außenseiter. Sein Nihilismus und das absurd großmäulige Auftreten passten dort nicht mehr so recht hin. Das war vielleicht eine Einstellung, die zu den frühen Punkbands passte, aber mit der er in den 80ern keinen Anschluß an die Szene fand. Denn Punk und Hardcore formten sich damals in verschiedenen Formen und Codes aus: Hardcore, Straight Edge, Rrrriot Grrrls, all das machte Punk vielseitiger, kreativer, selbstbewusster und auch kritischer. Ein Großmaul wie GG Allin, der sich textlich auf Gewalt-, Sex- und Vergewaltigungsfantasien beschränkte, dazu schlecht produzierte Platten raushaute, fand dort schwerlich Anschluß. Zumal er eigentlich alles ablehnte, was irgendwie nach Business oder Szene roch.

Was GG Allin stattdessen wollte? Er wollte Rock'n'Roll wieder gefährlich machen – wie er in seinem, sehr selbstbewusst formulierten Manifest aus dem Jahr 1991 erklärte. Ganz selbstverständlich erklärt er darin, dass er Elvis erfunden habe und sowieso Jesus, Gott und Teufel in einem wäre. Wie schon öfter zuvor kündigt er seinen Suizid auf der Bühne an und ruft zum Umsturz des Rock'n'Rollbusiness auf. Interessant ist dabei, dass er den Musikkonsumenten einerseits auffordert, Platten zu klauen, um der Musikindustrie in die Knie zu zwingen „If you have to have a record, steal it. That way they wont get your money.“. Anderseits folgt wenige Zeilen später der Aufruf „Go to your record store and buy all the GG ALLIN recordings you can find.“ Also für GG's Platten soll man bitteschön dann doch noch Geld ausgeben.

Von solch lautem Gebrüll abgesehen blieb die Person Allin lange Zeit, nunja, zwiespältig rätselhaft. Heute sind viele der Gerüchte um ihn gut beleuchtet. Im Netz ist alles gut und hinreichend dokumentiert.
Erstes Licht ins Dunkel brachte 1993 die Dokumentation „Hated“ von Todd Phillips. Es war Philipps erster Film, eine studentische Arbeit und wurde von der Kritik hochgelobt. Für Philips war „Hated“ ein gutes Karrieresprungbrett, denn spätestens seit er in den folgenden Jahren die drei „Hangover“-Sauf-Buddie-Movies realisierte, ist er gut im Filmgeschäft. „Hated“ war lange Zeit nur in der englischen OV erhältlich, seit einigen Monaten gibt es jedoch auch eine deutschsprschige Version mit dem sinnig übersetzten Titel Gehasst Extrem: GG Allin – Der meistgehasste Mann des Punk.



„Hated“ zeigt anhand von Interviews mit Fans, Freunden von früher, Bandkollegen und auch mit GG selbst, wie sich die Figur Allin entwickelt hat. Philips begleitet GG mit der Kamera auf Konzerten, backstage und bei spoken-word-performances. Das Ganze wird zusätzlich mit reichlich TV-Footage unterlegt. Wenn es eine Konstante im Auftreten von GG Allin gibt, dann die permanente Selbstinszenierung als DER wildeste und exzessivste Außenseiter im Rock'n'Roll schlechthin. Als der einzige, der die wirklich letzten Grenzen überschreitet. Immer. Das ist das Bild von GG Allin, das der Öffentlichkeit vermittelt wurde. Aber ist das der komplette GG?



Einen GG, der zuhause im Wohnzimmer sitzt und fernsieht, einen, der sehr rational auftritt, der vielleicht seinen Lieben was zu essen kocht, der ganz häuslich den Garten pflegt oder einfach mit einem Gläschen Rotwein auf der Veranda seines Hauses sitzt, den Hund streichelt und ganz lieb und rücksichtsvoll von seinen Freunden und Lieben redet, der eventuell eine ganz und gar stabile Beziehung führt – den gab es nicht. Soweit es bekannt ist. Zeit seines Lebens lebte Allin wohl immer in prekären Verhältnissen. Einen regelmäßigen Job annehmen wollte er nicht, wo und wie er gewohnt hat, ist auch nicht wirklich bekannt. Es gibt fast nur dieses Bild vom wilden Mann auf der Bühne.



In der „Hated“-Doku gibt es auch ein paar Interviews mit Allin himself. Da wirkt er ziemlich aufgeräumt und gar nicht so blöd, wie man das denken könnte. Aber gerade solche Szenen feuern die Zwiespältigkeit der Figur GG Allin ja nur noch an. Zu sehen, dass er ganz ruhig auf einem Hotelbett sitzt und Fragen beantwortet, OHNE Todd Philipps aufs Objektiv zu kacken, bringt die GG-Afficionados ja nur dahin, weiter zu rätseln, was diesen, offenbar doch zuweilen ganz umgänglichen Typen dazu gebracht hat, sich die meiste Zeit wie ein psychopathisches Arschloch zu benehmen. Gerade diese Ambivalenz lässt die Faszination für GG Allin bei vielen nicht abkühlen.



Erfunden hat das der Irre aus New Hampshire dieses Spielchen allerdings nicht. Er steht damit eigentlich in einer Reihe von weiteren Figuren der Rock- und Pop-Geschichte. Sei es Jerry Lee Lewis, Ozzy Osbourne, Jim Morrison, Marylin Manson oder Iggy Pop. Sie alle – und noch einige mehr – spielten mit dem Changieren zwischen irrem öffentlichen Auftreten und winzigen Einblicken auf den Menschen dahinter. GG Allin hat diese Inszenierung in einer Art auf die Spitze getrieben, dass es bei ihm eigentlich keinen Menschen dahinter gab. Es gab nur den irren Punk, der die Selbstverletzung zum Marketinginstrument machte. Der unaufhörlich den Exzess lebte, keinen Knastaufenthalt scheute und aus seiner Verehrung für Serienmörder keinen Hehl machte. Von Alice Cooper weiß man, dass er sich nach dem Gig die Schminke abwischt und auf dem Golfplatz ein paar Bälle schlägt. Hätte man sich das bei GG Allin vorstellen können? Eher nicht.



Das konsequente und andauernde Basteln am eigenen Bild des nihilistischen Rock'n'Roll-Animals kann man wahrscheinlich nicht ewig machen. Sowas kostet Kraft (allein die Drogen und der Schnaps!) und selbst der härteste Rocker braucht irgendwann eine Auszeit. Gut möglich, dass GG Allin die über 50 Gefängnisaufenthalte immer wieder zum Luftholen genutzt hat. Auch möglich, dass er geahnt hat, dass er sowas nicht ewig machen werde können. Denn wer so oft seinen Selbstmord ankündigt, der wird wissen, dass er den Weg, den er eingeschlagen hat und nicht mehr verlassen will, recht schnell zu Ende sein kann. Das Ende kam dann recht unspektakulär, allerdings nicht so wie GG es angekündigt hatte. Statt dem oft angekündigten Suizid auf der Bühne, brachte eine Überdosis Heroin nach einem Gig in New York den erfahrenen Drogenkonsumenten GG Allin zur Strecke. Das ist zwar sehr Rockstar-like, aber eben auch nicht so unerwartet, wie es bei einem Typen wie GG Allin, der seinen Tod ja zuvor schon oft laut und wild angekündigt hat, hätte kommen können.




Interessant könnte in Hinblick auf den Menschen GG Allin ein Film des Regisseurs Sami Saif sein. Der produziert nämlich zurzeit eine Doku über GG's älteren Bruder Merle und seine Mutter. Was am Ende unter dem Titel „The Allins“ rauskommt, dürfte für Fans egal sein – sie werden es sich am Ende eh anschauen. Der Titel erinnert zumindest schon mal an eine Serie über die Sippe eines anderen Madman of Rock'n'Roll: Ozzy Osbourne.


Nachtrag:
Oft habe ich darüber nachgedacht, ob ich es bedaure, GG Allin nie live gesehen zu haben. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ich das hätte sehen wollen. Es ist ein wenig wie bei einem Horrorfilm. Gerne schaut man sich an, wie Psychokiller über den Bildschirm wirbeln und mag auch den dabei entstehenden Grusel. Aber möchte ich ganz real miterleben, wie der Irre von nebenan mit der Axt die Tür einschlägt, um mich dann in Todesangst zu versetzen, bevor es daran geht, mir den den Schädel zu spalten? Ich denke nicht. Ähnlich verhält es sich bei GG Allin.

Gary Flanell



Wer immer noch nicht genug hat... weiterführende Links zu GG Allin:

GG Allin online Store

Ein Interview mit GG's Mutter

Die GG Allin Super Mega-Seite – sackweise Links zu GG Allin