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Dienstag, 28. Juli 2015

DAS IST LAUT UND NIMMT PLATZ WEG! Pt. I

Viel wird über Bands und Musikschaffende geschrieben. Oft wird das so erzählt, als wäre es selbstverständlich, Musik machen zu können, die Zeit und Gelegenheit zu finden, die Gemeinschaft mit den anderen, die eine Band zur Band macht. Und als wäre es selbstverständlich, sich die Anerkennung auf der Bühne zu erkämpfen. Ist es aber nicht. Wer ist schon einfach so „MusikerIn“? Wann darf man das eigentlich von sich sagen?

Darum hat die Renfield-Crew genauer nachgefragt. Wir haben uns vier großartige, ganz unterschiedliche Musikerinnen zusammengesucht, die alle hinter das Schlagzeug gehören – wenn auch, wie wir erfuhren, Instrumententausch gängige Bandpraxis ist. Und ließen uns von ihnen erzählen, wie sie da eigentlich hingekommen sind, was das für sie bedeutet und welchen Platz das geliebte laute Ding in ihrem Leben einnimmt.

Natürlich kommt dabei auch immer wieder ganz von allein die Frage auf, ob das immer noch auffällt – Frau am Schlagzeug? Sagen wir mal so: Es wird langsam. Aber die Sammlung der Sprüche, die Schlagzeugerinnen immer noch regelmäßig gedrückt bekommen, wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten...


DER KOLLEKTIVE STECKBRIEF

Namen: Johanna, Katrin, Rachel, Malwina.
Alter: Zwischen Mitte 20 und Mitte 40. Oder so um den Dreh.
Ausgeübte Tätigkeiten neben der Musik: Schreiben, Kochen, Kellnern, wissenschaftliche Arbeit, Unterrichten, Kinder erziehen, Modeln, Metalle zerspanen.
Musikstile: Punk, Ska, Rock, Postpunk, Swing, Latin, Schamanismus, new primitive music.

I. JOHANNA - NUR EIN HALBER LEBENSLAUF

Mit Johanna von Kulku treffe ich mich an einem sonnigen Frühlingstag vor einem sonnigen Café. Sie ist noch etwas blass vom Winter, zeigt aber schon ihr Grübchen und lächelt in die Sonne. Die zweifache Mutter hat eher selten Zeit, im Café zu sitzen, und auch genug Zeit für ihre Band zu finden, fällt nicht immer leicht – auch weil der Vater ihrer Kinder in derselben Band spielt, die sie gemeinsam gegründet haben. Das heißt, jede Probe und jeder Auftritt erfordert Kinderbetreuung. „Andreas macht alleine ziemlich viel Musik“, erzählt sie, „aber zusammen ist es schwer. Wenn wir nicht arbeiten müssen, gehen wir tagsüber zusammen in den Proberaum, wenn die Kinder in der KiTa sind. Aber abends muss immer organisiert werden.“

Kulku ist eher das, was sie eine freie Formation nennt. Beim Auftritt im April im Berliner Wedding sind acht Musiker „aus dem Berliner Underground“ mit dabei. In Johannas Muttersprache Finnisch bedeutet Kulku etwas Ähnliches wie: der Weg, die Bewegung, das Gehen, das Fließen. „Auch so was wie den Groove?“ frage ich sie, und sie lacht und nickt. Kulku sind musikalisch etwas völlig Eigenes. Sie selbst nennen es „new primitive music“ oder „Animism'n'Roll“, womit sie auf ihre schamanistischen Elemente verweisen. Für Johanna ist das Schlagzeug auch ein Instrument der Trance, Musik ist nicht nur Ausdrucksform, sondern ein Weg, sich für Erfahrungen zu öffnen. Kulku bauen auch Instrumente selbst und konstruieren „organische“ Klanginstallationen mit Wind und Wasser. „Radiotauglich wollten wir nie sein.“


Johanna kommt vom Punkrock her und hat Musik immer als etwas zutiefst Politisches erlebt, schon Mitte der 90er in Helsinki. Mit 16, 17 Jahren war sie damals in der Szene aktiv, Punk, Tierrechte, Aktivismus und Musik gehörten zusammen. „Damals und dort waren es doch hauptsächlich Jungs, die Musik machten. Die wenigen Frauen waren meist Sängerinnen und dann gleich richtige Profis.“ Sie selbst kam zuerst durch die Britpop-Band Elastica auf die Idee, Musik zu machen, und begann mit einigen Freundinnen zusammen zu spielen. „Energie und Aggressionen mussten raus, darum fing ich mit dem Schlagzeug an.“ Mit zwei anderen Mädels und einem Jungen als Gitarristen spielte sie dann in der Band G-litter. „Das kam aus der Szene, aber wir klangen ganz anders. Es war so eine Art märchenhafter Funk.“

Um 2000 herum kam Johanna, nach einiger Zeit in London, nach Berlin. „Es war damals viel leichter in Berlin“, meint sie. Musikerin zu sein und trotzdem irgendwie leben zu können, das wird zunehmend prekärer. „Du brauchst Zeit, um Musik zu machen. Du brauchst einen freien Kopf und Kreativität. Und diese Zeit geht eben ab von der Zeit, in der man Geld verdienen kann. Und als Frau wird man dann vielleicht auch noch Mutter. Und auch das braucht Zeit.“ Und sagen wirklich heute immer noch Leute so was wie: „Oh guck mal, da ist `ne Frau am Schlagzeug?“ Ja klar, meint Johanna. Gerade durch den Instrumententausch auf der Bühne bei Kulku kann es Bemerkungen geben, wenn sie sich ans Schlagzeug setzt. Ganz typisch ist auch, wenn sie sagt, dass sie Musik mache. „Dann kommt oft so was wie: Ah ja, singst du? Und wenn ich sage, ich spiele Schlagzeug, dann kann es heißen: Das hätte ich jetzt nie gedacht... Weil ich nicht danach aussehen würde. Wie das auch immer aussehen würde...“

Nett gemeint und kurz gedacht ist auch der Klassiker: dem zarten Mädchen Hilfe beim Schlagzeugaufbau anbieten. Das nervt Johanna besonders, so sehr, dass es auch schon vorkam, dass sie tatsächlich mal etwas nicht genau wusste und sich nicht helfen lassen wollte, um sich nicht in diese Kleinmädchenrolle drängen zu lassen. Das Do-It-Yourself-Ethos war ihr immer wichtig. Sie hat ihr Instrument selbst gelernt und fühlt sich als Autodidaktin herausgefordert, sich auch technisch zu beweisen.

Der Vermarktung aber wollte sie sich entziehen, nicht Teil der Industrie werden. „Ich hatte nie die Idee, davon leben zu können.“ Mit den Trashcats wäre das vielleicht sogar gegangen. Die klangen nach den Ramones und verkleideten sich als Kellnerinnen. „Und das hat Spaß gemacht!“ Die vier Bandmitglieder arbeiteten damals alle im Berliner White Trash und bekamen gleich die Gelegenheit, im Rahmen des „Real Life Rock Drama“-Abends in der Columbiahalle zu spielen. Danach schrieben sie eigene Songs und entwickelten sich weiter, sprachen auch mal mit dem einen oder anderen Manager. Letzten Endes lösten die Trashcats sich jedoch auf, ohne Teil der Musikindustrie geworden zu sein.

Für Johanna ist Musik nicht ihr Beruf, aber viel mehr als ein Hobby. „Musik ist ein wichtiger Teil meines Lebens, den ich auch brauche. Aber es ist nicht einfach, das aufrecht zu erhalten, wenn man arbeiten und Geld verdienen muss. Da wird man gefragt: und was machst du? Und dann kommt manchmal diese Selbstverniedlichung, dieses: Ja eigentlich mache ich ja Musik. Dieses Eigentliche nehmen wir oft nicht ernst genug, lassen es außen vor, aus Angst, was die Gesellschaft darüber denkt, wie es zu rechtfertigen ist, wenn es kein Job ist. Da bleibt dann nur ein halber Lebenslauf.“


kulku.bandcamp.com

Kulku auf Facebook


II. KATRIN - KANN ICH DEINE STICKS HABEN?

Auf der Bühne trägt Katrin Anzug. Weißes Hemd, schwarze Weste, schwarze Sonnenbrille und schwarze Melone auf den blonden Haaren. Stock und Hut stehen ihr gut. Um sie herum lauter Jungs, die alle wie die Blues Brothers aussehen, und dazwischen Frontfrau Ariane. Keyboard, Gesang, Gitarre, Bass, Schlagzeug, Posaune, Trompete, Tenorsaxophon – das ist Port Royal.

„Das ist Ska, aber das hat auch ziemlich vielfältige andere Einflüsse“, erklärt Katrin, mit der ich in einer Neuköllner Kneipe sitze, den „pirate style“ von Port Royal. „Da sind rockige Einflüsse drin und Latin-Einflüsse.“ Der gemischte Stil von Bands wie Seeed hat sie beeinflußt. Wenn sie erzählt, wie eine Ska-Band Musik macht, klingt das ganz anders als die typische Dreierkombination aus Bass-Gitarre-Drums. Die Bläser spielen nach Noten, die Rhythmusgruppe spielt Akkorde. 10 Leute mit ganz verschiedenen Instrumenten zu koordinieren, geht nur mit einem gewissen Maß an Professionalität. Am Songschreiben sind aber verschiedene Leute beteiligt. „Meist entwickelt sich das dann beim Spielen weiter.“

Katrin hat sich das Schlagzeugspiel selbst beigebracht und spielt schon seit vielen Jahren für die Ska-Combo. „Es ist ein Hobby“, sagt sie. Im täglichen Leben ist sie Wissenschaftlerin und wirkt entsprechend kompetent und gelassen. Sie ist Diplomingenieurin für Werkstoffwissenschaften und promoviert über die Zerspanung von Metallen. Und zum Musikmachen kam sie nicht etwa in abgeranzten Punkrockkellern oder auf verkifften Hippie-Festivals, sondern in der Schule.

Sie fing in der neunten Klasse an zu spielen und nahm in der Oberstufe dann an der schuleigenen Big Band teil. Nahe lag das insofern, als es in der Schule Schlagzeug und Übungsraum gab, was Katrin zu Hause beides fehlte. „Schlagzeug übte einfach eine Anziehungskraft auf mich aus“, sagt sie. Die Eltern empfahlen ihr aber erst einmal Keyboard-Unterricht. „Schlagzeug, das nimmt Platz weg und ist laut“, hieß es damals. Katrin wirkt eher leise, doch sie ist von einer stillen Entschlossenheit. „Später hab ich mir dann eine Ecke im Werkzeugkeller freigeräumt.“


Ohne Unterricht hat sie damals nach Gehör gelernt, sich im Fernsehen verschiedene Schlagzeugstile ausgeguckt zwischen Echt und der Kelly Family. „Irgendwann hab ich den Rhythmus rausgehört.“ Dann gab es in der Schule eine Percussion-AG, und als dann bei der Weihnachtsfeier eine Schlagzeugerin der Big Band ausgefallen ist, konnte Katrin einspringen. „So bin ich dann da reingerutscht.“ Aus der Big Band entwickelte sich nach der Schule die Erstbesetzung von Port Royal. Dafür nahm Katrin dann später auch ein paar Unterrichtsstunden, im Wesentlichen aber ist auch sie Autodidaktin.

„Die Leute sind oft überrascht, wenn ich sage, dass ich Schlagzeug spiele“, lächelt Katrin. „So siehst du gar nicht aus, heißt es dann. Ich weiß nie genau, was die damit meinen. Vielleicht müssten Schlagzeuger muskulöse Oberarme haben oder so...“ Ob sie auch bei den Auftritten manchmal Sprüche zu hören bekommt, frage ich sie. Katrin zuckt die Achseln.

Höflich schaltet sich ihr Mann Stefan ein, der bisher dem Gespräch interessiert zugehört hat. Stefan spielt auch bei Port Royal. Er ist Bassist und beschäftigt sich auch mit Ton und Technik. „Darf ich...?“ fragt er, und als sie nickt, erzählt er: „Es kommt schon öfter mal vor, dass ich beim Aufbau gefragt werde, ob ich der Schlagzeuger sei, wenn ich helfe, ein paar Sachen reinzutragen. Interessant finde ich aber auch die Gespräche mit den Tontechnikern.“ Stefan meint, es gebe zwei typische Kommentare der Tontechniker zu Katrins Spiel: Manche loben sie und sagen, sie spiele großartig, andere finden, ihr fehle der „Wumms“. „Ich kann das meistens vorhersagen, welche Reaktion da jetzt kommt. Damit, wie Kati wirklich spielt, hat das weniger zu tun, eher damit, was die von ihr erwarten. Sie kann schon auch leise spielen, das gilt aber für die ganze Band.“

Auch das Publikum reagiert unterschiedlich, stellt Stefan fest. Öfters kommen Leute nach dem Auftritt auf die Bühne. „Die stürmen dann an allen vorbei außer an Ariane und Kati.“ Frauen fühlen sich inspiriert von Katrins Spiel. „Die freuen sich und sagen: toll, wie du spielst. Manche fragen, ob sie ihnen ihre Sticks schenkt.“ „Ich hab inzwischen mehrere dabei“, sagt Katrin und grinst. „Aber von den Männern kommt auch öfter mal: Toll, dass DU das machst.“ Katrin kümmert das wenig. Sie bleibt leise. Aber ihren Platz nimmt sie trotzdem ein.


Port-Royal-Music

Port Royal auf FB

Text: Alissa Wyrdguth

Dienstag, 21. Juli 2015

Draw. Ride. Live. (Up the Punk-Bikes!)

Es gibt viele Arten, sich mit seiner eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Die einen erzählen dem Kollegen am Tresen, was sie Verrücktes im Laufe der Jahre getrieben haben. Irgendwelche Umlaut-Promis engagieren im zarten Alter von 25 Jahren einen Ghostwriter, um einen Blick auf ihre lange Karriere als Irgendwas zu werfen. Andere wiederum hangeln sich anhand eines ganz eigenen und fiktiven Mixtapes durch das Dasein. Irgendetwas gibt es also immer, was man zur Hand nimmt, um sich an das, was man erlebt hat, zu erinnern. Die wenigsten würden allerdings auf die Idee kommen, die Fahrräder, mit denen sie von der Kindheit bis in die Gegenwart, für eine Retrospektive zu Hilfe zu ziehen. Dass man den beschreibenden Blick auf das bisherige Leben also doch sehr einfallsreich gestalten kann, wenn man als Künstler mit Fokus auf den Punk/HC-Bereich seinen ganz eigenen Stil gefunden hat, zeigt der Spanier Rafa El DOC – auf dessen BICIOGRAFIA ich zum ersten Mal beim Zinefest 2013 in Berlin gestoßen bin.

Gary: Fahrräder, Zeichnen, Musik: Welche dieser drei Hauptinteressen in deinem Leben ist dir am wichtigsten?
DOC: Na ja, genau diese drei Dinge sind für mich die Basis für alles andere. Sie hängen eng zusammen und haben dieselbe elektrische Energie, dasselbe Gefühl. Findest du nicht, dass es genau dasselbe ist, ob man mit dem Fahrrad tausend Stundenkilometer schnell den Hügel runterrast und den Wind ins Gesicht kriegt, oder ob man superlaute Musik mit dem Verstärker hört, oder ob man seine ganze Wut in eine Zeichnung spuckt, in der man Leute köpft, die man hasst? Dazu kommt: wenn dich eins davon im Stich lässt, gibt es immer noch die anderen. Ich zeichne fast immer, für irgendwelche Bands oder Konzerte, und ich gehe von meinem Fahrrad eigentlich nur runter, wenn ich schlafen muss oder... zeichnen! Mein neuestes Projekt ist eine fahrbare Fanzinothek. Mit meinem neuen Fahrradanhänger.

G.: Mir scheint, wenn jemand eine Biographie schreibt, hat sie oder er oft gerade eine bestimmte Phase abgeschlossen und blickt darauf zurück. Findest du, das stimmt, und passt es zu deiner Biciografica?
DOC: Vielleicht. Als ich die Biciografica gemacht habe, hatte ich gerade einen wirklich wichtigen Abschnitt meines Lebens abgeschlossen. Das ist wahr. Als ich diese Zeit zu Ende brachte, fühlte ich mich leer und zerstört. Ich wollte mich an die guten Dinge erinnern, um mit der Situation klar zu kommen. Und dann dachte ich an Fahrräder. Ich meine, durch Fahrräder habe ich mich an die letzten 30 Jahre in Spanien erinnert und an die neuen Sachen, die aufgetaucht sind, weil es einige politische Veränderungen gab. Heavy Metal, Punk, Skateboards...

G.: Wie bist du auf die Idee gekommen, die Phasen deines Lebens mit den Fahrrädern zu verbinden, die du hattest?
DOC: Ich dachte, es könnte funktionieren. Es ist eine Art Ethnographie des Selbst, eine persönliche Untersuchung der Erfahrungen eines fast 40jährigen Mannes. Ich kannte einige selbstethnographische Arbeiten, die über Tattoos oder Narben handeln, aber davon habe ich nicht viele. Und dann dachte ich, Fahrräder könnten ein großartiges Thema sein, weil es so viele gibt, die für soziale, politische und ökonomische Phasen stehen.

G.: Wenn man sich die Biciografica anguckt, hast du wohl ziemlich viele Orte auf der Welt gesehen: London, Schweden, Dänemark, Berlin, Lima und Barcelona sind genannt. Wie kamst du an diese verschiedenen Orte? Würdest du sagen, dass du zu den Typen gehörst, die immer auf der Straße sein wollen? Gibt es denn einen festen Platz, den du Zuhause nennst? Und was ist wichtig für dich an einem Platz, den du Zuhause nennen würdest?
DOC: Es gibt in der Biciografica so viele verschiedene Orte, weil ich die wichtigen Momente in meinem Leben zeigen wollte, und Reisen ist etwas Unvergessliches. Ich habe meine Heimatstadt vor Ewigkeiten verlassen. Ich habe tausend Orte mit mehr Neugier als Geld zu sehen bekommen. Ich bin nicht immer auf der Straße, ich war auch manchmal im Dschungel, buchstäblich, hehe. Ich meine, ich hatte verschiedene Phasen der Unbeständigkeit, zum Beispiel in meiner Wahlheimat Barcelona, wo ich hundert verschiedene Sachen gemacht habe und es jahrelang als meine Stadt gesehen habe. Jetzt hat dieses Gefühl sich verändert. Mein Zuhause ist jetzt da, wo meine lebendigen Freunde wohnen, ich meine die, die mit mir etwas machen wollen. Barcelona ist durch, es wird immer langweiliger. Es ist eigentlich eine riesige Open-Air-Shoppingmall voller Touristen. Mit Barcelona ist es vorbei.


G.: Was ist eigentlich der Fahrrad-Krieg in Dänemark, von dem du in der Biciografica erzählst? Das erinnert mich ein bisschen an mittelalterliche Ritterspiele...
DOC: Ja. Es ist tatsächlich so etwas in der Art. Es ist eine apokalyptische Trance. Leute bauen tagelang etwas auf, das sie dann in ein paar Minuten wieder einreißen. Es war eine erstaunliche Erfahrung. Es ist ein Trip, der dich direkt ins Krankenhaus führen kann, aber es ist auch total faszinierend, wie aus einem Müllhaufen ein Monster der Kreativität wird, geritten von Leuten, die sich in edle Krieger verwandeln und einfach am Spiel teilnehmen wollen, ohne jemanden zu verletzen. Es gibt dort Leute von überall her, die genau so sind wie du. Es bildet sich eine kleine „Familie“, voller Möglichkeiten. Du guckst dir das an und merkst, die Leute um dich rum treffen sich, um zu kämpfen, zu schreien, zu spielen, sie sind sich selbst genug, von allen Regierungen unabhängig. Es ist ein elektrisches Gefühl, es vermischt Fett und Schweiß.

G.: Was sind für dich die größten Vorteile des Fahrrads, gegenüber Autofahren, Motorrädern und den Öffentlichen?
DOC: In Barcelona hat das Auto den Kampf schon längst verloren. Es gibt keine Parkplätze, die Straßen sind zu eng und die Polizei zieht dauernd Strafgelder ein. Es wird richtig teuer. Öffentlicher Verkehr ist auch ganz schön teuer. Er ist überfüllt, und du wirst wie Scheiße behandelt. Aber Fahrradfahren ist eine Erfahrung voller Möglichkeiten. Du kannst anhalten, wie und wo du willst, das kannst du mit den Öffentlichen nicht. Fahrradfahren ist für mich eine rebellische Geste, in diesem langweiligen und sesshaften Leben, in dem wir für alles zahlen müssen. Du kriegst ein bisschen Sport in dein Leben und gleichzeitig den Transport.

G.: Ich habe die Biciografica beim Zinefest in Berlin entdeckt. Ich war überrascht, dass es nur noch ein paar Musik-Zines gab, wie ich sie aus der Punkumgebung kenne, aber richtig viele Comics, persönliche Zines und Sketchbooks. Was waren deine Eindrücke von diesem Treffen der Fanzine-Künstler?
DOC: Ich glaube, das passiert gerade überall. Es gibt ein paar Gründe dafür: erstens, die Zugänge zu den neuen Medien. Jeder hat einen Computer und eine Kamera, was allen ermöglicht, bestimmte Sachen zu machen. Zweitens sind Bilder zurzeit ganz besonders wichtig. Wenn du deine Familie durch Skype siehst, das bedeutet auch irgendwie, dass die Entfernung verschwindet. „Sehen heißt haben“.
Vor Jahren haben die Leute in gute Bücher und gute Musik investiert, jetzt investieren sie in eine gute Internet-Verbindung, um an diese Inhalte ranzukommen.
Es hat auch was mit Nostalgie zu tun. Tinte, Papier, Oberflächen muss man anfassen und riechen. In Spanien gibt’s noch einen eindeutigen Grund: die Arbeitslosigkeit. Die normalen Arbeitszeiten, die jeder kennt, sind praktisch verschwunden. Freie Zeit und der Wunsch, mal rauszukommen, bringt die Leute dazu, sich mit Sachen zu beschäftigen, die vielleicht auch den Weg einer neuen Arbeitsweise zeigen, flexibler, von zu Hause aus, wo du das Spiel mit deiner Kreativität bestimmst.
Außerdem verändern sich die Konsumenten und werden älter. Dadurch werden die Fanzines auch besser. Und sie können sich vielleicht keine Häuser und Autos leisten, aber sie können sich ein paar gute Fanzines leisten.

G.: Ich habe die dritte Auflage der Biciografica, also war sie wohl ziemlich erfolgreich. Hast du das erwartet, als du angefangen hast? Gibt es große Unterschiede zwischen den Ausgaben?
DOC: Kommt drauf an, was du mit Erfolg meinst. Drei Ausgaben, die jeweils aus 80 Exemplaren bestehen, das sind 240 Hefte in zwei Jahren. Wenn du auf ein Konzert gehst und Bier verkaufst, kannst du 240 Biere oder sogar mehr in einer Stunde verkaufen... Erfolg? Ganz ehrlich, Fanzine machen hat mir Freude und viele gute Sachen gebracht. Manche Leute würden meinen Job echt lieben.
Die dritte Ausgabe der Biciografica ist größer, diese letzte hatte ich gar nicht geplant. Ich habe die Covers für die zweite Ausgabe bestellt, und als ich sie bekam, waren sie im A3-Format gedruckt und kosteten dreimal so viel wie normal. Ich sagte, ich wollte sie nicht haben. Also machten sie die, die ich eigentlich bestellt hatte, und als ich gerade 200 Euro bezahlen wollte, haben die Mädchen sich entschieden, mir die falschen zu schenken, die nachher dann die richtigen wurden!
Sie lagen so ein Jahr lang bei mir rum, während ich die zweite Ausgabe verkaufte. Dann fand ich eines Tages einen anarchistischen Copyshop, ich fragte nach den Preisen, und sie waren richtig billig. Also beschloss ich, die dritte Ausgabe im A3-Format zu drucken. Es war erstaunlich. Vielleicht hätte ich an den Zeichnungen noch arbeiten sollen, aber ich beschloss, alles so zu lassen, wie es von Anfang an war.


G.: Du benutzt verschiedene Methoden für deine Kunst: Siebdruck, Zeichnen, Masken – was ist deine bevorzugte Methode, und warum gefällt sie dir am besten? Was sind die wichtigsten Unterschiede, ob man ein Shirt entwirft oder das Cover für eine Platte? Wie entscheidend ist der Aspekt der Reproduzierbarkeit?
DOC: Am liebsten setze ich mich erstmal hin und zeichne eine Weile mit dem Bleistift, dann mit Tinte. Das mache ich meistens so, weil man dafür wenig braucht. Siebdruck ist cooler. Ich habe dafür ein paar Arbeitsgeräte zu Hause. Zwischen Klamotten und Plattencovern mache ich eigentlich keinen Unterschied, ich benutze manchmal dasselbe Motiv für beides. Das Wichtigste ist, dass das Motiv Kraft hat, FUERZA. Zum Beispiel mache ich nicht gerne schwierige Sachen für Kassetten-Cover, einfach weil sie so klein sind.
Ich mag ikonische Bilder, die dir ins Gesicht springen. Die letzte Frage ist eine, die mich in letzter Zeit beschäftigt. Ich konzentriere mich auf synthetischen Formen, damit das Drucken gut klappt. Ich habe gerade einige Illustrationen für ein Buch gemacht, und dabei habe ich große, klare Linien benutzt. Ich vertraue der Technik, aber ich traue nicht den unsicheren Geräten.

G.: Wenn man sich deine Arbeit so anschaut, findet man viele satanische Symbole, finsteres grausiges Zeug: Wahnsinn, Teufel, Totenschädel. Viel davon würde erstklassig zu einer Slayer-Platte passen. Kommt das einfach aus so typischen Rock/Metal/Punk-Motiven, oder gibt es bei dir ein tieferes Interesse an okkulten Themen und Theorien?
DOC: Ganz ehrlich? Das ist mir total egal. Satanismus ist eine Vereinfachung, im Guten wie im Schlechten. Manchmal ist das etwas Lustiges, weil du damit konservative Leute erschrecken und beunruhigen kannst.
Ich denke tatsächlich, wenn du gegen Religionen bist, gegen katholische Heuchelei, hegemoniale Denkweisen, szientistische Medizin oder wenn du dem wissenschaftlichen Fortschritt auch nur mit ein bisschen Skepsis gegenüber stehst, dann bist du gleich der Feind, ein Zauberer oder Satanist. Wie bei den historischen Hexenjagden. Das war eindeutig der Versuch, uraltes Wissen von Heilkräften und Pflanzen zu vernichten.
Wenn ich ein umgedrehtes Kreuz male, ist das also eine Warnung. Aber... was könnte satanischer sein als Monsanto, Shell, der Vatikan und Merkel? Wir leben doch längst in der Hölle auf Erden!

G.: In der Punkszene kommt es ja oft vor, dass jemand ein Bild oder eine künstlerische Arbeit benutzt, ohne dafür zu zahlen oder auch nur zu fragen. Ist dir das schon passiert? Und wie bist du damit umgegangen?
DOC: Mir ist das nie passiert. Ich poste immer, was ich fertig gemacht habe, und ich schicke es an eine Person oder eine Band, und wenn es dann jemand benutzt, ist das OK, denn diese Arbeit hat ihren Zweck erfüllt.
Wenn jemand meine Arbeiten für anarchistische Zwecke benutzen will, bitte, kein Problem. Wenn es für eine Marke oder so wäre, dafür habe ich Creative Commons, das funktioniert aber nicht so richtig...
Ich mag es, bei den Sachen, die ich mache, frei zu sein. Ich besitze nichts, und wenn jemand von meinem Zeug inspiriert wird, wenn es jemand hilft, zu malen oder sich auszudrücken, dürfen sie es ganz frei benutzen. F*ck die, die meinen, sie wären originell!

G.: Welche Art von Bands lassen bei dir die Cover für ihre Platten machen? Wie würdest du den Vorgang beschreiben, mit dem du die Covers entwirfst? Sind die Vorschläge der Band wichtig? Und wie bist du in Kontakt mit den Leuten vom MAXIMUM ROCKnROLL-Zine gekommen?
DOC: Bei Punkbands, also DIY-Bands, ist der Vorgang ganz einfach. Sie bestellen das Format, 12”, 7”, Tape oder CD. Sie schicken mir Text und Musik. Ich hör mir das ein paarmal an, und dann lasse ich es ein bisschen in meinem Kopf herumschwimmen...
Ein paar Tage später setz ich mich hin und füge ein paar Ideen zusammen. Manchmal geht’s schnell. Das hängt von der Band ab und wie sie mir gefällt. Ich versuche erst mal von Hand zu zeichnen und benutze den Computer erst, wenn ich merke, dass das nicht mehr genau das wird, was ich will. Schließlich schick ich es der Band und warte, ob es ihnen gefällt. Sonst ändere ich etwas.
Mit den Leuten von MRR lässt es sich super arbeiten. Sie sind total offen und sie brauchen immer Illustrationen. Es war wohl so, dass ein gemeinsamer Freund ihnen meinen Blog gezeigt hat. Dann haben sie mich gefragt, ob ich irgendwas für sie machen wolle, Aufkleber oder Cover, und ich sagte ALLES! Und das habe ich gemacht. Das Cover der Juni-Ausgabe 2013, die Aboseite, die Plattenbeilage, Aufkleber... Ich glaube, was noch fehlt, ist MMR-Radio...

G.: So viele Fragen, und soviele Antworten. Hier noch Raum für ein paar letzte Worte.
DOC: Ich hoffe, ihr findet das Interview nicht zu lang. Es ging um Themen, die es verdienen, dass man sie ein bisschen eingehender bespricht. Vielen Dank für euer Interesse und danke an alle, die dabei mitgemacht haben!

docindustries.blogspot.de

Gary Flanell

Dienstag, 14. Juli 2015

What's radical?

Zugegeben, in den letzten Wochen war es etwas ruhig auf dem RENFIELD-
Blog. Das hat aber nichts mit dem Sommer oder dem dazugehörigen Inhaltsloch zu tun. Die Gründe waren dringend not-
wendige Renovie
rungsarbeiten im neuen Renfield-Hauptquartier. Und der dazugehörige Umzug, klar. Raus aus Kreuzberg, ab nach Lichtenberg. Kreuz weg, Licht rein, Berg bleibt. So einfach ist das.


Aber jetzt, nachdem sich das größte Chaos des Umzug-Big-Bangs gelegt hat und alle Teilchen einigermaßen Platz im neuen Bau gefunden haben, ist wieder Zeit, regelmäßig Texte und Interviews aus dem Renfield zu posten.
Wir starten gleich mal mit dem ersten Artikel aus RENFIELD No. 30.
Worüber? Über den überaus interessanten Fotografen/Filmemacher/Schriftsteller MIRON ZOWNIR.
Von wem? Von der geschätzten Renfield-Kollegin LRTT*.
Los geht's!

Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich am Tresen in einer Kreuzberger Kneipe saß und ein groß gewachsener glatzköpfiger Mann mittleren Alters meine Bestellung entgegennahm. Zunächst eine unscheinbare Situation, jedoch erkannte ich nach einigen Minuten in dem Barkeeper MIRON ZOWNIR. Kurz zuvor hatte ich den Bildband RADICAL EYE geschenkt bekommen und ihn seither immer wieder durchgeblättert und mir überdurchschnittlich viel Zeit für jede einzelne Seite, jede einzelne Fotografie genommen, weil ich zwar schon viel in meinem Leben gesehen hatte, so etwas aber noch nie. Aus Ehrfurcht fragte ich ihn lediglich, ob er Fotograf sei, was er bejahte. Danach nippte ich weiter an meinem Bier. „Was hat so ein brillanter Typ hinter dem Tresen einer miefigen Berliner Kneipe verloren?“ habe ich mich gefragt, aber eben auch nur mich. Ich weiß ja um die Kulturindustrie und ihre Ambitionen gute Kunst zu fördern. Fürn Arsch!

Das Licht ging aus und ein Film wurde auf die Wand projiziert. Bennett Togler, Kurator der NACHTSCHICHT im BABYLON MITTE und wandelndes Filmlexikon, sprach ein paar einleitende Wort zum folgenden Film. Hier traf sich ein Filmclub, um noch einmal die Chronik der Western und des Film Noir zu durchleben und ich bekam langsam eine Ahnung, wo ich hier gelandet war. Jemand zündete sich eine Zigarette an und der Redner blaffte ihn an, dass er ja gern nach Hause gehen könne, wenn er meint, hier stören zu müssen. Ich bekam Angst, ZOWNIR lachte schallend, dass alle erschraken.

Ein Zufall also, der mich unter diese Leute spülte, von denen ich mich mittlerweile so gern umzingeln lasse, weil es mich erdet, wie es sonst kaum etwas anders vermag. Der direkte und zeitweise auch rohe Umgang miteinander, wenn Menschen, die wissen was sie wollen, was sie für richtig und falsch halten, aufeinander treffen, das ist es, was mich erdet. Grade raus sagen, was die Schnauze ausspuckt, ohne Schnörkel und falsche Weichzeichner.
Leute mit Visionen – das hat mir gefehlt, weswegen ich froh war einige Zeit später bei der Realisierung eines Films von MIRON ZOWNIR dabei sein zu dürfen, bei dem Birol Ünel, Milton Welsh, Rummelsnuff, Gloria Viagra oder King Khan, um nur einige zu nennen, sich gegenseitig die Köppe einhauen. Wunderbar! Ganz wunderbar! Ich hatte mir extra frei genommen, von meinem bezahlten Irgendwas-mit-Medien-Job, um mal wieder was Richtiges und für mein Verständnis Wichtiges zu tun.

Das Drehbuch zum Film stammt von niemand geringerem als ZOWNIR selbst. Seine Leidenschaft galt bereits in junge Jahren der Literatur, den Märchen, den Existenzialisten, den russischen Autoren. Jedoch befiele ihn ein Gefühl der Isolation, wenn andere Kanäle des Ausdrucks verstopft wären, weswegen er nicht nur schreiben, sondern auch Filme machen und über dies hinaus auch fotografieren muss. Er muss! Einerseits aus seinem Schaffensdrang heraus und andererseits weil man zum Beispiel beim Schreiben nur ein bestimmtes Publikum erreicht, man für einen Film immer ein Budget braucht und auch, weil seine Fotografien einen eher dokumentarischen als fiktionalen Charakter haben. Völlig verschiedene Paar Schuhe also, jedoch immer mit der unverkennbaren Handschrift ZOWNIRs.

Einige bezeichnen seine Motive als tabubrechend oder provokant, psychotisch oder schmutzig, radikal oder obszön. Und JA, das kann man gern so sehen, aber in mir lösen sie, wie gesagt, eher ein Gefühl der Erdung aus. Die abgebildeten, sogenannten Outsider sind keine Paradiesvögel, sondern Ausgestoßene der Gesellschaft, geopferte Menschen, aber immer noch Menschen, wenn auch teilweise mit verlorener Würde.
Jedoch frage ich mich, bei dem breiten Spektrum an „Outsidern“, die hier im Fokus stehen, ob man da noch von Außenseitern sprechen kann? Die Transsexuellen, die körperlich Behinderten, die Obdachlosen, die Nutten, die AIDS-kranken Kinder, die auf der Straße Krepierten, die traumatisierten Veteranen, die Fetischisten, die Roma, die Schwulen oder Pornodarsteller – Wo ist da die Schnittmenge?
Hier kann man nicht mehr von einer Parallelgesellschaft sprechen, denn das, was man hier sieht, das ist sie – die Gesellschaft. So sieht sie aus und MIRON ZOWNIR sagt: Sieh hin! Er reißt den Schleier von den Augen und betreibt Gehirnwäsche der reinigenden Art. Der Kosmos, der aus den immer wiederkehrenden stilistischen Elementen ZOWNIRs entsteht, versetzt einem immer wieder und jedes Mal anders einen Tritt, der zumindest mich näher an den Ist-Zustand heranführt. Im heutigen Verständnis würden die Leute gern ihr mickriges Ich dadurch pimpen, indem sie sich selbst gern in der Außenseiterrolle sehen und diesem Begriff irgendwie positiv besetzen. ZOWNIR zeigt aber das diesem Hedonismus ein Hangover folgt.

Aktuell findet sich die Schattenseite des Lebens in dem Fotobuch UKRAINIAN NIGHTS wieder, das MIRON ZOWNIR in Zusammenarbeit mit Kateryna Mishchenko erstellt hat. Es geht um die Menschen und deren Alltag, aber vor allem wieder um genau jene, die an der Peripherie des vermeidlichen Mainstream leben und die Gesellschaft doch besser widerspiegeln als alle anderen. Sie werden sichtbar gemacht und somit zu den wahren Rebellen bzw. Demonstranten für ein würdevolleres Leben. Auch hier geht es nicht um Opferdarstellungen, sondern um die Beschreibung von Situationen und Umständen, unter denen die Ukrainer leben, nicht nur in Kiew, nicht nur auf der Krim, sondern in der gesamten Ukraine. Das, was außerhalb des Fokus der öffentlichen Medien geblieben ist, wird nun in UKRAINIAN NIGHTS in den Vordergrund gerückt.

MIRON ZOWNIR, der selbst ukrainische Wurzeln hat und dessen Vater sich seinerzeit zwischen „Gulag oder Westen“ entscheiden musste, erhielt ein Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung, durch welches er diese Reise und deren Dokumentation realisieren konnte. Nach vielen Jahren des Fotografierens scheint es, dass nun endlich demjenigen Ehre zuteilwird, dem Ehre gebührt. Vermutlich kackt MIRON ZOWNIR einen großen Haufen auf Ruhm und Anerkennung, aber meiner Meinung nach wird es höchste Zeit, dass beispielsweise sein Fotobuch DOWN AND OUT IN MOSCOW unter den besten des Jahres ist (Virtual Bookshelf).

Immerhin ist seine Russlandreise bereits 10 Jahre her und der auf dem Cover abgedruckte tote Mann, der unbeachtet mitten auf der Straße verrottet und von Fliegen umschwirrt wird, ist nach wie vor ein schockierendes und tragisches Moment, das nichts von seiner Schlagkraft eingebüßt hat. Allein in diesem Bild werden die Grenzen erkennbar, die sonst unsichtbar die Menschen voneinander trennen. Hier zeigt sich der Zaun zwischen denjenigen, die leben und denen, die ums Überleben kämpfen. Die Bedingungen im Osten sind gnadenloser und härter, sagt ZOWNIR, das Milieu aggressiver. Es zieht ihn jedoch vor allem auch in die Metropolen der Welt, die durch die Kamera ununterscheidbar werden. Berlin, New York, London – sie alle werden durch ihre Parkbänke und Motelzimmer, ihre Nachtclubs und schummrigen Straßen geeint.

Doch es sind natürlich nicht die Orte allein, sondern die rastlosen Menschen, die diese Orte aufsuchen und durch ZOWNIRs Blick von einem Funken Sinn erhellt werden. Der sogenannte Underground bekommt ein Gesicht, welches zu Erkennen ZOWNIR nach wie vor auf der Spur ist. Fotografierend, schreibend, Filme-machend nähert er sich einem Gesamtkunstwerk, das nicht nur seine persönliche Perspektive auf die Welt darstellt, sondern ein Licht in die dunklen Ecken bringt, die genauso zu unsere Alltag gehören, wie die Shopping Mall oder die Autowaschanlage.

Es geht hier also um einen versteckten bzw. nicht offensichtlichen Teil des täglichen Wahnsinns, wie ZOWNIR es nennt. Er selbst wird zum Bestandteil dieser „Anderswelt“, wenn er sich in bestimmte Milieus begibt. Nichts ist inszeniert, nicht die Blutlache und auch nicht der Gangbang. Und gerade das Authentische macht den Reiz an seinen Bildern aus. Das Bildmaterial, das in der Tagespresse abgedruckt ist, versucht ein Publikum zu bedienen. ZOWNIR nicht! Um den Schritt mehr zu meistern, den ZOWNIR hinter die Kulissen macht, muss er diskret und entschlossen zugleich sein. Es bedarf eines gewissen Gespürs für bestimmt Situationen, die durchaus auch gefährlich werden können, aber als Ex-Rausschmeißer, der den Knast nicht nur einmal von innen gesehen hat, weiß ZOWNIR sich zu verteidigen.

Zum Glück hält ihm nicht gleich jeder ein Messer an die Halsschlagader. So strecken exhibitionistischer veranlagte Menschen gern ihren Arsch in die Richtung seines analogen Objektivs, um es später in schwarz-weiß abgebildet einer Ausstellung herzugeben. Wagt es ein Gallerist ZOWNIRs Werke zu zensieren, wird nur noch eine Staubwolke des legendären Fotografen übrig bleiben. Da ZOWNIR sich nicht selbst zensiert, würde er es auch nie zulassen, dass es jemand anderes tut. Man kann die Welt nicht ändern, indem man ein Bild von der Wand reißt und so tut, als hätte es dieses nie gegeben. Die Tatsache, dass das Abgelichtete da draußen ist, kann nur ein Idiot ignorieren. Es gibt sie, die Naziaufmärsche, unter deren braune Masse sich ZOWNIRs Auge mischt oder die religiösen Fanatiker, die die Passion nachstellen und sich selbst das Fleisch in Fetzen peitschen. Denn „jeder Mensch sucht nach einer Erlösung, ein Pilger ebenso wie ein Junkie. Der Unterschied liegt lediglich im individuellen Umgang mit Einsamkeit und Elend.“ ZOWNIR sucht seine eigene Erlösung, aber nicht indem er sich voyeuristisch von der Welt isoliert, sondern sich selbst mitten in sie hinein schleudert.

Die eingangs genannten Protagonisten, wie beispielsweise RUMMELSNUFF, für den er das Musikvideo FREIER FALL (bei -17°C) gedreht hat, gehören zu Unterstützern von ZOWNIRs Filmvisionen, die einen fließenden Übergang darstellen, zwischen den von ihm geschaffenen Fotos und seinen Romanen, Kurzgeschichten oder Gedichten. So schrieb ZOWNIR, den von mir sehr geliebte Kurzgeschichtenband PARASITEN DER OHNMACHT.
Bei der Lesung werden diese Texte von BIROL ÜNEL vorgetragen. Und wieder finde ich mich in einer Berliner Kneipe wieder. Diesmal mit Wein statt Bier. Der etwas lädierte und dadurch ungeheuer sexy und authentisch wirkende Ünel rezitiert die Texte, als hätte er sie noch nie gesehen. Wiegt diese vermeidliche Unsicherheit aber durch seinen Trinker-Scharm auf und verleiht den Worten somit auf seine ganz eigene Weise ein Profil, als würde eine Fotografie ZOWNIRs zum Leben erweckt. Der geborene Schauspieler. Und wieder lacht ZOWNIR laut, dass alle erschrecken. Ein paar Wochen später, fand ich mich beim Dreh von MIRONs Film ABSTURZ wieder. In dem Film geht es grob um einen etwas lädierten, aber sexy Birol Ünel, der ZOWNIRs Kurzgeschichten in einer Berliner Kneipe liest.

ZOWNIR bereitet die Realität zu einer fiktionalen Vision auf und erschafft dabei abgründige Welten, die nur von der echten Welt inspiriert sein können. Es tauchen dabei unter anderem so wortgewaltige Textstellen wie diese hier auf: „Geht zu den Ahnungslosen und tauscht ihre Wälder gegen Fernsehgeräte ein und ihre Hütten gegen Plattenbauten und ihre Sonnenuhren gegen Roleximitationen und ihre Giftpfeile gegen McDonalds und ihren Aberglauben gegen den Judengott und seinen gekreuzigten Sohn, damit sie in Demut erkennen, dass sie von Anfang an falsch lagen ... “

Am Ende sitzt nur noch ein einziger Gast im Raum und das auch nur, weil er eingeschlafen ist. Aus dem entstandenen Film entwickelte sich dann eine Hörbuchaufnahme zu der FM EINHEIT den Soundtrack lieferte und die sich selbst Universal nicht entgehen ließ. Kurz zuvor hatte ZOWNIR bereits prognostiziert, dass selbst das Establishment langsam kapiert, dass es keinen Weg an ihm vorbei gibt. Dennoch wird ZOWNIR sich nie zum Helmut Newton der Unterschicht kaputtinterpretieren lassen. Weswegen er nach wie vor dem nachgeht, was er am besten kann.

Aktuell schneidet er an seinem Spielfilm BACK TO NOTHING. Unter der Besetzung finden sich die übliche Verdächtigen, wie King Kahn, Birol Ünel und Rummelsnuff, aber auch Meret Becker, Timo Jakobs, Texas Terri Bomb, Hanin Elias, Komet Bernhard oder Rolf Buchholz. Produziert wird dieser Film von der bezaubernden Nico Anfuso (Divine Appointments). Ein weiteres Mal wird ZOWNIR uns beweisen, dass nicht alles, was im Dreck liegt, hässlich ist. Wer die Fertigstellung des Films nicht abwarten kann, kann sich das neue Fotobuch NEW YORK CITY RIP besorgen, das ab Juni bei Pogobooks Berlin erscheinen wird und dessen Vorwort niemand geringeres als LYDIA LUNCH verfasst hat.

www.mironzownir.com

Tipp: Am 26.7.2015 zeigt das DurchsFenster zwei Filme von Miron Zownir in Anwesenheit des Regisseurs.