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Dienstag, 27. Januar 2015

Tres chic - an evening with Francoise Cactus

Ziemlich genau 20 Jahre bevor dieses Interview mit Francoise Cactus bei Bier und Wein in der Kreuzberger Kneipe an der Ecke geführt wurde, gründeten sich in Berlin die Lolitas. Dieses Interview erschien in Renfield No. 16, im Jahr 2006, man kann sich also leicht ausrechnen, wann das losging mit der Band, die Frau Cactus in Berlin bevor sie mit STERO TOTAL weitermachte. Viele Jahre vorher hatte mir irgendjemand die Lolitasplatte „My English sucks“ auf Tape gezogen. Auf der Rückseite waren Ton Steine Scherben – interessante Kombi, auch wenn ich damals noch gar nicht geahnt habe, dass Berlin die Verbindung zwischen beiden Bands sein könnte. Die auf dieser letzten LOLITAS-Platte eingespielten Coverversionen (z.B. von den Misfits, Dead Boys, Queen u.a.) haben mich ziemlich schnell zum Fan werden lassen. Wann genau das war, kann ich gar nicht mehr sagen, aber ich denke es war zu einer Zeit, als Francoise Cactus ihre erste richtige Band in Berlin schon hinter sich gelassen hat und erste Versuche mit Stereo Total unternahm. Das Tape hab ich immer noch, und klar, im Laufe der Zeit sind auch ein paar LPs dazugekommen. Allesamt Beseisstücke, dass es in den 80ern in Deutschland richtig gute garagebands gab. Wobei „Bouche Baiser“ gnaz klar mein Vinyl-Favorit ist. Da passt es natürlich formidabel, dass am Freitag, dem 30.01.2015 die Premiere des Stereo-Total-Trashicals "In der Hölle des Rock'n'Roll" gefeiert wird. Perfekter Anlass, um das Interview mit Francoise C. hier nochma zu prääsentieren.

G.: Francoise, wie bist du eigentlich nach Berlin gekommen?
F.: Als ich Studentin in Frankreich war, habe ich einen Zettel vom DAAD gesehen und es gab einen Austausch von Studenten für den ich mich beworben habe. ich dachte: ich geh mal ein Jahr nach Deutschland. man konnte so kleine Jobs in einem Gymnasium kriegen, um mit den Schülern ein bisschen französische Konversation zu betreiben, so ein paar Stunden die Woche. Man sollte ein paar Städte zur Auswahl angeben und ich hab gesagt: 1. Berlin, 2. Hamburg, 3.nix. Dann haben sie mich nach Husum geschickt.

G.: Husum?
F.: Es war nicht so schlecht, ich habe bei den Urenkelinnen von Theodor Storm gewohnt und es war am Meer. Gar nicht schlecht, aber so schon ziemlich langweilig, Ich war schwer enttäuscht, dass ich dorthin geschickt wurde. aber dann hatte ich in der Schule nicht so viele Stunden und habe gefragt, ob ich das nicht alles zusammenpacken kann. Ich habe dann nur noch Montag und Dienstag gearbeitet und bin den Rest der Zeit herumgereist. Ich war oft in Kopenhagen, weil das nicht soweit von Husum entfernt ist und manchmal auch in Berlin. In Paris war Berlin, so in den 80ern DAS Ding, deshalb wollte ich unbedingt dahin…
Auf jeden Fall bin ich so zum ersten Mal nach Berlin gekommen, da hab ich dann schon ganz lustige Dinger gesehen, wie z.B. das Festival der genialen Dilettanten so ganz verrückte Sachen, die ich in Frankreich noch nie gesehen hab oder auch so richtig extreme Punkrockkonzerte. Einmal hab ich mir eine Rippe geprellt, weil mich ein paar Typen beim Pogo gegen die Bühne gequetscht haben.
Das stand sogar auf dem Befund des Krankenhauses: Rippen geprellt beim Pogo. Ich war ganz stolz. Dann bin ich zurück nach Frankreich, habe ein bisschen weiter studiert und dann dachte ich: Ich gehe ein Jahr nach Berlin. Ursprünglich wollte ich auch nur ein Jahr bleiben. Aber dann habe ich diesen Franzosen kennen gelernt, Coco, mit dem ich später die Lolitas hatte. Dann fing das mit der Band an und ich hatte keine Lust abzuhauen.


G.: Das lief ja auch ganz gut mit den Lolitas…
F.: Ja, das war ganz nett so. Wir waren zwar keine Weltstars, aber es war ok.

G.: Ihr habt zumindest ein paar gute Platten gemacht…
F.: Ja, da waren ein paar coole Platten bei. Es war ganz amüsant, in Deutschland waren wir zuerst bei What’s so funny about, dem Label von Alfred Hilsberg aus HH. Der hatte immer so bekloppte, aber ganz gute Bands auf seinem Label. Dann waren wir bei Vielklang und in Frankreich waren wir bei New Rose. Dadurch haben wir die Möglichkeit gehabt, eine Platte mit Alex Chilton und eine mit Chris Spedding zu machen. Chris Spedding ist eigentlich ein ganz toller Gitarrist, der bei ganz vielen Leuten Gitarre spielt, z.B. bei dem Typen von den Sex Pistols…
Also, das waren so die Abenteuer mit den Lolitas. Aber dann ist Coco abgehauen, weil er plötzlich nicht mehr in der Großstadt leben wollte. Er ist nach Guadeloupe gezogen und wohnte da in so einer Hütte. Ich habe gedacht: Na, das wird kompliziert. Wir haben zwar nicht viel geprobt, aber die Lolitas waren sowieso in meinem Geiste am Ende. Weil ich die Lolitas anfangs sehr gern mochte, als wir noch gar nicht spielen konnten. Wir konnten zwar schon ein bisschen was, aber es war so frisch. Nachher haben die Jungs angefangen, so klassische Dinger spielen zu wollen und dann interessierte mich das nicht mehr so richtig.
Jedenfalls auf unserer letzten Tour mit den Lolitas, war Brezel unsere Vorband. Er ist solo unter dem Namen „Der Böhmische Elvis“ aufgetreten. Ich fand den Typen genial und dachte: Mit dem mach ich eine Band. So ist das ungefähr übergangslos weitergegangen: Die Lolitas waren vorbei – Puff! Ich nehme mir den Typen von der Vorband und mache gleich die nächste Band.

G.: Aber bei den Lolitas hättet ihr ja eigentlich auch eine neuen Gitarristen holen können und ohne Coco weitermachen können…
F.: Ja, aber Coco war schon sehr wichtig, weil wir die Musik zusammengemacht haben. ich hab die Lyrics geschrieben und Coco die Musik. Ok, das hat sich auch ein bisschen vermischt, aber als er weg war, war es nicht möglich, ihn zu ersetzen.

G.: Und irgendwann war auch Tex Morton mit dabei…
F.: Ja, aber er hat keine Songs geschrieben. Er ist zwar ein guter Gitarrist, aber er hat keine Songs bei den Lolitas geschrieben. Der hatte ja schon ganz viele Bands. Neulich habe ich den Sänger von Lüde & die Astros wiedergetroffen, als Roadie von so einer jungen deutschen Band, es war ganz lustig, den wiederzusehen. Und mit dem hatte halt auch Tex Morton gespielt, der hatte auch schon sehr viele Bands weil er ein sehr guter Rock’n’Rollgitarrist ist.
Vor ihm spielte bei den Lolitas Tutti Frutti, dieser Italiener, der immer noch in Berlin wohnt und solo auftritt, der heißt jetzt Michele Venelo. Michele ist sein richtiger Name, aber seit der ersten Lolitasplatte, da hatten wir geschrieben – Michele, Coco, und Olga und da wurden wir bei allen Kritikern als Frauenband besprochen, weil alle dachten, Coco wäre ein Frauenname und Michele würde sich wie Michéle aussprechen. Klingt ja auch Französisch, aber eigentlich waren wir ja gemischt und die Jungs waren immer sauer: Schon wieder schreiben sie, wir sind eine Frauenband. Dann hat er seinen Namen geändert und sich Tutti Frutti genannt. Irgendwann ist er wieder nach Italien abgehauen, dann kam Tex Morton. Es gab da ein paar Fluktuationen.

G.: Aber bei den Lolitas hast du von Anfang an gesungen und getrommelt? Hast du denn vorher schon in Frankreich Schlagzeug gespielt?
F.: In Frankreich habe ich schon gesungen, aber das hat mir nie gefallen, weil die Jungs immer gesagt haben: So, jetzt singst du das und das und das. Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich in einer Punkrockband gespielt, Katapult. Aber da dachte ich irgendwann: Ich muss jetzt mal meine Band machen. Das war, als ich Coco getroffen habe.
Wir wohnten auch im selben Haus, das war so eine Art besetztes Haus mit 8 Kumpels und irgendwann haben wir die Zeitung aufgeschlagen und da stand dann: Ich verschenke mein Schlagzeug an Abholer. Weil Coco Gitarre spielen wollte, habe ich gesagt, dann spiel ich halt Schlagzeug. Das haben wir dann in unseren Keller gestellt. Dann hab ich meine beste Freundin zu der Zeit gefragt, ob sie nicht Bass spielen will. Wir haben dann dreimal geprobt – Coco konnte schon ein bißchen Gitarre spielen, ich konnte gar kein Schlagzeug spielen und hab nur so ganz einfach getrommelt und das Mädchen konnte auch keinen Bass spielen.
Dann haben wir unser erstes Konzert hier in der Waldemarstraße in Kreuzberg im Kino gehabt. Ich habe einfach angefangen, dabei zu singen und so ist es seitdem geblieben, ich finde Schlagzeug einfach super. Es gibt viele Leute, die sagen, es ist schwer Schlagzeug zu spielen und gleichzeitig zu singen, aber ich denke, Schlagzeug kann man spielen ohne dabei zu denken.
Das ist ein bisschen wie rumtanzen. Es passiert manchmal, dass ich beim Singen Gitarre spiele, aber das nervt mich. Während ich singe, muss ich immer viel mehr auf die Akkorde und die Wechsel achten. Schlagzeug ist irgendwie einfacher.

G.: Ging’s nach dem Ende der Lolitas sofort mit Stereo Total los?
F.: Ja, am Anfang wollte ich noch einen dritten Typen dabeihaben. Der hieß Captain Spacesex. Das ist so ein abgefahrener Musiker in Berlin, der tritt immer so in Science-Fiction-Kostümen auf und hat so ganz verrückte Synthies aus den 70ern. Ich wollte zwar, dass es immer noch Rock’n’Roll-Elemente hat, aber ich wollte gern mal ein paar mehr Sachen mit Synthies machen.
Der Typ wäre super gewesen, aber ich hab ihn ca. 20mal zu Proben eingeladen und er hat immer gesagt: Ja, geil mach ich, aber er ist nie gekommen. Dann hab ich ihn angerufen aber er ist nie gekommen. Ich dachte dann: Das wird nix. Dann haben am Anfang nur Brezel und ich gespielt, meistens so ganz easy. Er ist mit einer Bontempi-Orgel aufgetreten, so eine ganz billige mit Begleitautomatik und ich hab dazu gesungen.
Wir haben das bei irgendwelchen Ausstellungseröffnungen gemacht. Irgendwann haben wir uns gedacht: Wir machen jetzt eine Rockband auf, aber es gab auch hier sehr viel Fluktuation. Als erstes hatten wir die Gitarristin Leslie Campbell, das ist eine Frau, die ich super fand, sie kommt aus Schottland und war schon in den 80ern in Berlin und war früher in dieser Superband Camping Sex. Camping Sex ist eigentlich die Vorgängerband von Mutter. Der Sänger war Max Müller und der Schlagzeuger war Florian Körner von Gustorf. Tres chic.
Leslie hat eine Zeitlang bei uns gespielt, war aber nicht so ehrgeizig wie wir und hatte auch keinen Bock, eine Platte aufzunehmen und auf Tour zu fahren, das war ihr alles too much. Sie ist nicht so lange dabei geblieben. Dann hatten wir später Rasi, den Boy from Brazil, der hat bei uns Bass gespielt. Das war eigentlich nicht so geplant, aber Rasi ist ein alter Freund von mir.
Als wir mit den Lolitas vor dem Mauerfall in Ostberlin gespielt haben, haben wir da immer verbotene Konzerte gegeben. Wir haben so getan, als ob wir Touristen sind und die Jungs haben uns Instrumente gegeben und dann sind wir in Kirchen, in Gärten und so was aufgetreten. Da kam Rasi einmal vorbei, ein ganz arroganter Typ und ich dachte: „Was ist denn das für ein Arschloch?“ Sein Vater war Diplomat und deshalb war er in Ostberlin, aber er konnte immer in den Westen, sooft wie er wollte. Zuerst konnte ich ihn überhaupt nicht ausstehen und jetzt ist er einer meiner besten Freunde.
Jedenfalls treffe ich ihn und frage ihn ob er mir mal die Adresse von einem Freund geben kann, das war ein Bassist, den ich bei einem Konzert gesehen hatte und super fand. Ih wusste, dass das ein Kumpel von Rasi war. Rasi wollte wissen, warum ich die Adresse brauche und als ich sagte: Ich will ihn fragen, ob er bei uns Bass spielen will und Rasi sagte: Nein! Das mache ich!
Und ich sage: Aber Rasi, du kannst doch gar kein Bass spielen – macht nix! Dann war Rasi eine Zeit lang unser Bassist. Irgendwann hat er diese amerikanische Künstlerin geheiratet, Beth More-Love und war weg in Amerika. Dann ist Angie Reed eingestiegen, die macht ja jetzt auch Solosachen und Reimo, der ist jetzt beim Jeansteam. Das waren alle Musiker die wir hatten. Die sind irgendwie nach und nach abhanden gekommen und irgendwann hatte ich es so satt. wir haben die Songs eh nur zu zweit geschrieben und sagen den anderen eh nur: Spiel mal ein A oder ein G oder so. das ist doch Quatsch.
Seitdem machen wir das zu zweit und das gefällt mir besser. Bands sind mir einfach zu anstrengend. Wir wohnen zusammen, wir reisen zusammen und wenn wir wollen, gehen wir zusammen in den Proberaum, das ist alles ganz einfach einzurichten.

G.: Ich finde, daß Stereo-Total-Songs immer so leicht und einfach rüberkommen. Schüttelt ihr die einfach so aus dem Ärmel, wie es euch in den Sinn kommt, oder frickelt ihr ewig an einem Song rum und seid da eher perfektionistisch drauf?
F.: Wir mögen keine Perfektion und wir suchen auch nicht den supergeilen energetischen Sound, mit dem Aufnahmestudios werben. Aber ich würde schon sagen, daß Brezel in seiner Crazyness, in seiner Art ein Perfektionist ist, um einen ganz bekloppten Sound zu erzeugen. Da kann er schon manchmal stundenlang rumdrehen und machen, bis es genau so ist wie in seinem Kopf. Er ist da schon perfektionistisch, aber ich nicht so. Ich denke mir immer, wenn ich einen Text schreibe: Wird er mir noch in 4 Jahren gefallen? Wenn ja, kommt er durch, wenn nicht, landet er im Mülleimer.
Wenn ich schlecht gesungen habe, nehme ich das natürlich noch mal auf, aber Brezel fummelt schon ganz schön viel. Also, wenn wir aufnehmen gehen, ein paar Parts ziemlich schnell Schlagzeug zum Beispiel. Neuerdings spiele ich Trompete und auch Theremin. Dann verschwinde ich und er fummelt die ganze Nacht an etwas herum. Also ich glaube, er ist ein Perfektionist, aber nicht im klassischen Sinne, sondern weil er eine bestimmte Vorstellung hat, wie es klingen sollte und wenn nicht, dann ist er nicht zufrieden.

G.: Wie ist das mit den Lolitastexten? Findest du die immer noch gut?
F.: Da schäme ich mich auch nicht. Ich wundere mich manchmal, wenn ich mit Sängern rede und die sagen: Oh Gott, ich kann die Lieder von unserer Platte nicht mehr singen, ich schäme mich total. Ich hab das nicht. Natürlich gibt es auch ein paar Griffe ins Klo, aber insgesamt nicht.
Bei den Lolitas, da gab’s so Texte über ein Mädchen, daß sich umbringen will und den ganzen Tag auf dem Gleis rumläuft. Vielleicht lag es auch an der Zeit, dass ich ein bisschen depressiv, trüb und schwarz war, oder wenn man so hospitalismusmäßig den ganze Tag hin und herschaukelt. Das war schon ganz schön trübe manchmal. Oder über total misslungene Liebesgeschichten und so. Ok, manchmal gab es auch lustige Sachen.
Die Texte von Stereo total sind ja auch viel lustiger und entspannter. Meist singe ich in französisch oder deutsch, aber auch eEnglisch, italienisch oder Spanisch. Wir haben zwei auf Portugiesisch, weil wir in Brasilien ein Label haben und die freuen sich, wenn wir auf ihrem Label eine extra Version auf Portugiesisch haben. Einmal haben wir eins auf türkisch gemacht, aber da hat niemand drauf reagiert, außer als wir mal in Istanbul gespielt haben, da kannten die Leute das. Aber hier in Berlin hat das keinen interessiert, dabei wollte ich ja was für die Völkerverständigung machen…

G.: Du hast doch auch auf dieser japanischen Dackelblutsingle mitgemacht, wie kam das denn zustande?
F.: Ich kenn halt Jens Rachut schon ganz lang, schon als er diese Band vor Dackelblut hatte, Angeschissen (singt „Hund“ von Angeschissen). Ich hab ihn mal auf einer Tour mit den Goldenen Zitronen kennengelernt und da war er auch dabei. Seitdem sind wir Kumpels. Er hat Brezel gefragt, ob er bei Kommando Sonnenmilch für ihn Musik machen will, sodass diese Platte sich nicht so punkrockig anhört wie die anderen. Dann hat er mich gefragt, ob ich was für ihn singen will. Er ist superlustig und nett. Ich habe den Text einfach übersetzt. Das ist ja ein Lied über diesen Kinderspielplatz und es ist ein bisschen über die Misere von den kleinen Kindern, die schlecht drauf sind und die Eltern sind auch schlecht drauf und so.

stereototal.de

Sonntag, 25. Januar 2015

Renfield? Gibt's jetzt auch...

bei den folgenden beiden sehr sympathischen Geschäften in Berlin.

Zabriskie: Am anderen Ende der Manteuffelstraße (also vom Renfield-HQ gut fußläufig zu erreichen) gelegen. Super Buchladen für Kultur und Natur mit nem gut ausgesuchten Sortiment an Büchern und Magazinen zum Thema Subkultur, Kunst, Film und DIY.

Periplaneta: Der Verlag, in dessen Subkulturreihe Gary Flanells Erstlingswerk "Stuntman unter Wasser" rausgekommen ist. Das Renfield kann man dort entweder online bestellen oder beim Besuch im verlagseigenen Literaturcafé auf der Bornholmer Straße 81 mitnehmen.

Dienstag, 20. Januar 2015

Altern, Alter!

Die Frage nach dem Alter… stellt man sich als 16-32-jähriger Jungrebell eher selten. Haben deine Lieblingsbands ja auch nie gemacht. Die Circle Jerks empfahlen ganz schlicht „Live fast, die young“, die Descendents haben erst auf ihrem Spätwerk „What will it be like when I get old?“ gefragt.
Machen wir uns nichts vor: Dem Altern ist schwer auszuweichen. Eigentlich gar nicht. Das weiß Renfield-Schreiber Philipp Nussbaum und Ox-Kolumnist Alex Gräbeldinger weiß das auch. Was sie beide von den Begleiterscheinungen des Älterwerdens halten, haben sie beim Interview in Renfield Nummer 28 ausdiskutiert.

P: Ist genau heute und jetzt eine gute Gelegenheit, mit dir über das Altern zu sprechen? Es geschieht zwar dauernd und ohne Unterlass, manchmal aber sanfter und manchmal heftiger.
A: Zurzeit bewege ich mich im gemütlichen Schritttempo auf die Midlife-Crisis zu. In der Hoffnung, dass sie mich nicht allzu hart erwischen wird. Als kleine Vorsorgeuntersuchung kommt mir unser Gespräch daher durchaus gelegen.

P: Wie alt bist du gerade, und wie alt würde z. B. Jenny sagen, dass du dich fühlst?
A: Ich stehe kurz vor meinem 35. Geburtstag. An manchen Tagen wache ich auf und fühle mich doppelt so alt. Die meiste Zeit benehme ich mich allerdings wie ein Teenager oder Kleinkind. Ich denke, das würde meine Frau so bestätigen.

P: Woran merkst du, wie alt du bist? Woran, dass das schon wieder vorbei und nurmehr Vergangenheit geworden ist?
A: Dass ich nicht mehr als Elfjähriger durchgehe, fällt mir insbesondere beim Blick in den Spiegel auf. Trotz der zahlreichen Anti-Aging-Produkte, die ich in den vergangenen Jahren ausprobiert habe. Somit sind die Zeiten, in denen ich beim Kauf einer Flasche Schnaps nach einem Altersnachweis gefragt wurde, für immer vorbei.

P: Herr Wiebusch sang, dass irgendwas immer sechzehn bleibe (Auch schon lange her, das. Der Setzer) Was soll das eigentlich?
A: Bestenfalls, dass man sich ein Stück Jugend bewahrt. Schlimmstenfalls, dass man, so wie ich, mit 35 noch immer nicht erwachsen ist. Dann gibt es noch Menschen, die definieren sich ein Leben lang über das, was sie als Teenager zustande gebracht haben. Bei einer Band wie beispielsweise SLIME sind das immerhin die Lieder „Deutschland muss sterben“ und „Wir wollen keine Bullenschweine“. Bei mir ist das leider nicht mehr als ein Realschulabschluss mit einem Notendurchschnitt von 3,5.

P: Hat bzw. hatte der 16jährige Gräbeldinger überhaupt einen Vertrag mit Altern, Alter?
A: Das war bei mir schon mit 16 tagesformabhängig. An gut gelaunten Tagen wollte ich nicht älter als 21 werden und trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Jung kaputt spart Altersheime". An schlecht gelaunten Tagen verspürte ich Zukunftsängste und hoffte darauf, dass mir noch genug Zeit bleiben würde, um mein verkorkstes Leben wieder in Ordnung zu bringen.

P: Sechzehn, Club der Siebenundzwanziger und und und. Drauf geschissen, mir gehts gerade mehr um den Prozess, um das Geschehen-von. Beizeiten stehe ich mit Kollegen vor meiner Dienststelle, rauche, und wir zerreißen uns das Maul über uns selbst und natürlich mehr über andere, die gerade durchs Bild laufen. „Oh Mann, der/ die/ das bekommt eine Eins mit Sternchen in Unwürdigaltern, hehehe“, usw. Was sind die armseligsten Alternsanzeichen? Was die schönsten? Oder sind sie alle gleich?
A: Ob sich jemand mit 50 noch die Haare grün färbt oder lieber eine beigefarbene Bundfaltenhose trägt, ist mir ehrlich gesagt völlig egal. Auch stört es mich nicht, ob jemand versucht etwas zu konservieren oder es vorzieht, der Zeit ihren Lauf zu lassen. Solange man das macht, womit man sich wohlfühlt, und niemand dabei zu Schaden kommt, altert man meiner Auffassung nach würdevoll. Scheißegal, was die Leute von einem denken.

P: Ist Altern eher Zerfallen oder eher Reifen? Lässt es sich aufhalten oder forcieren?
A: Körper und Geist besitzen ein Verfallsdatum, das sowohl positiv als auch negativ beeinflusst werden kann. Wenn ich einen Großteil meiner Lebenszeit damit verbringe, Schnaps zu trinken und Crystal Meth zu rauchen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich nicht nur körperlich verwahrlose, sondern auch geistig.
Achte ich stattdessen auf meine Gesundheit und lese regelmäßig die Apotheken-Umschau, erhöhe ich die Chance, auch im Alter noch Freude an Nordic Walking und Kreuzworträtseln zu haben. Darüber hinaus stehen mir natürlich noch Botox und die Schönheitschirurgie zur Verfügung. Doch ob ich mich letztendlich reifer oder einfach nur älter fühle, wird immer davon abhängig sein, wie ich meine Lebenserfahrungen auswerte. Wenn es gut läuft, werde ich ausgeglichener und weiser. Wenn es doof läuft, nichts weiter als ein verbitterter, alter Sack.

P: Was muss altern, bevor es überhaupt was taugt? Außer Käse?
A: Eine naheliegende Antwort wäre vermutlich Wein. Doch in Wahrheit bin ich alles andere als ein Weinkenner. Das bedeutet: Wenn ich besoffen werden will, gelingt mir das in der Regel auch mit einer Flasche, die vor nicht mehr als einem Jahr abgefüllt wurde.

P: Apropos Wein. Z. B. der wird nur bis zu einem bestimmten Punkt besser, bis er dann den Zenit überschreitet und zu Essig wird. Mensch kommt, steigt, steigt, erreicht, kippelt und saust dann im Sturzflug hinab in die Regression. Welcome back, feuchte Windelwunderwelt. Gehts bei dir weiter aufwärts oder bereits wieder abwärts? Und was machst du, wenns zu steil werden sollte?
A: Ob ich meine besten Jahre bereits allesamt vertrödelt habe, oder ob mir noch ein paar davon übrig bleiben, wird sich zeigen. Allerdings ist davon auszugehen, dass ich in diesem Leben kein Astronaut, Model oder Rockstar mehr werde. Was das betrifft, mache ich mir nicht länger falsche Hoffnungen. Da bleibe ich lieber mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und entgehe somit der Gefahr einer schwindelerregenden Fallhöhe. Verglichen mit Wein würde ich mich ohnehin als Billigfusel aus dem Tetrapack einstufen.

P: In Ecken der Welt ist es wichtig, das letzte bisschen Altern, nötigenfalls eben das Sterben, in einer gewissen Würde erledigen zu können. Wichtiger wohl als bei uns wenigstens, wo die neonausgeleuchtete Seneszenzeinbahnstraße im pflegeindustriellen Nirvana endet und endet und endet. Und nicht endet. Schon gar nicht an einem See. Statement zu Altern in Würde?
A: Sterbehilfe – ein schwieriges Thema. Trotzdem denke ich, sobald die letzten Tage im Leben eines Menschen nur noch aus Leid und Qual bestehen, sollte jeder das Recht auf einen sanften Ausklang haben.

P: Welche Musik passt zu alledem? Vielleicht irgendeine jenseits Raum und insbesondere Zeit.
A: Supernichts – „Ich möchte Teil einer Seniorenbewegung sein“. Chefdenker – „Das Beste zum Schluss“.

P: Letzte Worte für die Ewigkeit?
A: Worte für die Ewigkeit setzen Weisheit voraus. Eine solche möchte ich mir nicht anmaßen. Jedoch bin ich neulich über ein Zitat von Muhammad Ali gestolpert. Es lautet: „Wer die Welt mit 50 Jahren genauso sieht wie mit 20 Jahren, hat 30 Jahre seines Lebens verschwendet.“ Zwar bin ich mir nicht sicher, ob er mit dieser Aussage recht hat, trotzdem werde ich mir Gedanken darüber machen. Spätestens an meinem 50. Geburtstag. Ansonsten hoffe ich darauf, dass man auch einem alten Hund noch neue Tricks beibringen kann.

P: War mir ein Fest, Herr Gräbeldinger, ich danke. Bleiben Sie gesund und munter, wir sehen uns wieder und lauschen dann schwerhörig dem Knuspern des Zahns der Zeit.

Alex Gräbeldinger schreibt Kolumnen (z. B. fürs lebensherbstlich ungeeignet kleingedruckte OX) und beizeiten auch Bücher. Ab und an packt ihn trommelnd so was wie Musikalität. Triff ihn in einem Laden in deiner Stadt, möglicherweise ist er gerade dort.

http://www.alex-graebeldinger.de

Dienstag, 13. Januar 2015

Wer ist hier Charlie?

Aus gegebenem Anlass hat auch die Renfield-Crew einen angespitzten Stift gezückt. Renfield ist zwar durchaus nicht Charlie, zum Beispiel ist er immer noch am Leben (untot?). Dass es so viele Charlies gibt, war uns auch gar nicht klar. Aber Renfield in seiner Zelle hat letzte Woche fassungslos und sehr traurig durch seine Gitterstäbe gespäht. Wenn man in Frankreich wäre, so dachte er sich, müsste man jetzt Marine Le Pen zeichnen, wie sie Mord für ihre Kampagnen benutzt. Hier in Berlin bleibt uns Madame Le Pen erspart. Hier gibt es die besorgten Bürger, die im Netz mit kaum verhohlener Schadenfreude kommentieren, sie hätten es ja immer gesagt, was passiert, wenn man den Butzemann in UNSER Haus lässt! Dabei wird uns ziemlich übel, und wir können uns nur fragen: Wer, bitte, ist hier eigentlich Charlie?

"Wenn die Zeichnung intelligent ist, um so besser. Wenn nicht, auch nicht schlimm." (Stéphane Charbonnier)

Mittwoch, 7. Januar 2015

Die Sache mit den Mixtapes...

war im Renfield schon oft präsent. Nicht nur im Vorwort wurde die Playlist der allerersten selbst aufgenommenen Mischkassette seziert, die der Herr Flanell als junger Punker mal aufgenommen hat. (Auch so ein Ding, was für die neugierigen Netzräuber hier bald präsentiert wird).

In Renfield Nummer 27 führte dann Andi Kuttner, Betreiber des INCOGNITO Mailorders, die lose Kolumnenreihe "Musik-Kassetten stellen sich vor“, mit einem ein Blick auf seinen ersten Kassettenmix nach der Ankunft in der Hauptstadt weiter fort.
Das Tape, um das es ging, hatte den bedeutungsvollen Titel:
„Wall City Rock. Learning Berlin Lesson 1, 1 ½ Jahre Berlin in 1 ½ Stunden“.
Alles weitere nun direkt von Andi selbst...

Ziel der Zusammenstellung der Kassette war, wie der Untertitel es vielleicht schon verraten mag, einen musikalischen, oder präziser gesagt: akustischen Rückblick auf meine ersten 1 ½ Jahre in Berlin zu geben. Akustisch deswegen, da ich auch Sprüche vom Anruf-Beantworter, die ich mitgeschnitten hatte, mit in die Kassette hineinarbeitete. Das ganze wurde um den Jahreswechsel 2000/2001 zusammengestellt.

Es soll im folgenden Text weniger um die Songs selbst gehen, als nach Möglichkeit um ihre Verbindung zu meinen damaligen Erlebnissen.

Es war noch eine andere Zeit, und ein anderes Berlin, als wir es heute vor uns sehen. Damals zogen die neuangekommenen Studenten (wie ich es einer war) nicht wie heute nach Neukölln (oder Wedding, oder Moabit?), sondern nach Friedrichshain, in baufällige Wohnungen, die in aller Regel noch Kohleofen hatten und wirklich unglaublich billig waren. Ich bezahlte für meine insgesamt knapp 40 qm große Ein-Zimmer-Wohnung damals rund 380 DM incl. allem, wozu auch die nur kalte Dusche beim Nachbarn gehörte.
Es gab noch die Reste einer angestammten Bevölkerung: das waren ein paar wenige Familien, die meist in den etwas größeren Wohnungen in den Vorderhäusern wohnten, und die Reste einer alternativen Ost-Szene, die sich wie wir im weitesten Sinne als Lebenskünstler begriffen und in ständigen Provisorien lebten. Viele Wohnungen standen auch einfach leer. Es gab noch viel scheinbar Unberührtes zu entdecken. Die Wege führten von Friedrichshain aus häufig in den Prenzlauer Berg, nicht wie heute ausschließlich nur nach Kreuzberg. (von Neukölln war noch überhaupt nicht die Rede).

Es war schon irre: das Jahr 2000 galt zuvor immer als Synonym für eine neue, moderne Zeit. Mir persönlich hingegen brachte das Jahr 2000 das erste eigene Kohle-Ofen-Erlebnis – eine Crux, die ich natürlich liebte! Und auch sonst erschienen verschiedene Mechanismen der Marktwirtschaft – irritierender-, aber glücklicherweise – nicht intakt, in meinen ersten Wochen, Monaten und Jahren in Berlin.

Rückblickend erscheint mir persönlich diese post-sozialistische (?) Mischung als nicht immer harmonisch, aber authentisch, und es ließ sich darin interessanter leben als heute. Natürlich wurde auch auf dem Gehweg Fahrrad gefahren, und als die große Befreiung erlebt, mal in den Hinterhof zu pissen. Bei all dem hatte man aber das Grundgefühl, dass eigentlich letztendlich schon alle okay sind: Wer in den Schrottbuden (und es gab damals wirklich keine anderen) des Kiezes lebte, und sich diese meist rein DIY-mäßig halbwegs wohnlich gemacht hatte, das konnte kein schlechter Mensch sein. Verglichen mit heute habe ich auch das Gefühl, dass man bei aller Freiheit auch aufeinander Rücksicht nahm, soweit das ging, und dass man zumindest miteinander reden und sich verständigen konnte. Und wenn es dann doch zu Streit kam, wurde dieser mit einem von Herzen kommenden „Quatsch nicht rum“ beendet und die Kontrahenten gingen ihrer Wege. Diese Verständigung miteinander erscheint mir heutzutage völlig verloren gegangen zu sein, wenn Touri-Horden nur noch zum Konsumieren nach Berlin kommen, und sich einen Scheiß darum kehren, wie ihr Ausleben von vermeintlicher Freiheit bei den Leuten ankommt, die hier leben.

Aber auch sonst schlägt das Pendel kräftig zurück. Denn nicht nur beim Kampf um die Straße bzw. seinen Platz darauf reagiert heutzutage das Recht des Stärkeren in den Szene-Bezirken Berlins, sondern auch auf dem Immobilien- und Wohnungsmarkt. Es ist schon zum Speien. Jahre lang lebte man in Berlin als Mieter wie im Paradies, aber mit einem Mal machen die Mächtigen – die überbordende Nachfrage im Rücken – ernst, und wir können alle nur dumm aus der Wäsche gucken… Auch die groß-fressige autonome Szene, die um 2000 noch spürbar im Kiez vertreten war und Teil des ganzen Gefüges war. (Auch das hat sich geändert.)

Die Grundsteine für diese Entwicklung, die längst Friedrichshain voll erfasst und gekillt hat, wurden sicherlich damals gelegt – machen wir uns nichts vor, wenn nicht die ersten, dann aber die zweiten Gentrifizierer, das waren wir…
Aber nun genug des nachdenklichen Lamentierens, und bevor ich weiter über die eigene Vergreisung nachdenke, und schwermütig werde ob des Scheiterns eines Lebensentwurfs, flüchten wir lieber gemeinsam mithilfe der Musik zurück in eine andere Zeit…

LEATHERFACE – Sour grapes Das Tape beginnt mit dem ersten Lied der im Jahr 2000 erschienenen Leatherface-Platte, weil es ein wunderschöner Opener ist, mit seinen öffnenden zwei Gitarren, und der grandiosen Reibeisenstimme von Frank Stubbs. Im Spätsommer 2000 kam ich nach längerer Abwesenheit nach Hause in meine kühle Wohnung, draußen Sonnenschein, beschattet durch die große Linde im Hof, und ich freute mich mit diesem grandiosen Lied, wieder da zu sein, in meinem eigenen kleinen Paradies, in dem ich mich sehr wohl fühlte! Dazu hatte ich die Band im Mai jenes Jahres auch erstmals live gesehen.

EA 80 – Dr. Murkes gesammeltes Schweigen Ebenfalls erstmals live sah ich auch EA 80 in jener Zeit, es muss im Februar oder März 2000 gewesen sein. Es war noch kalt, und mit meinem Freund Brüdi fuhr ich mit dem Fahrrad immer den ehemaligen Mauerstreifen entlang bis zur Fettecke in Mitte, wo EA 80 auftreten sollten.
Das Gebäude sah von außen aus wie ein zerschossener Western-Saloon, war innen aber überraschend groß und geräumig. Es wurde ein wirklich großartiges Konzert, die Gitarren-Gewitter und Moll-Töne von EA 80 entfalteten in diesem aus lauter Provisorien bestehenden Gebäude ihre besondere Wirkung. „Dies ist der Freiraum, den ich immer wollte“, wie es im Song-Text gesungen wird, beschreibt auch sehr gut meine Gedanken über meine damalige Wohn-Situation in unserem Seitenflügel mit den bemalten Wänden - ohne Hausmeister und sonstige Nerv-Batzen…

NERDS – Peter, Paul & Carrie Hm, warum hier dieser geil-fröhliche NERDS-Song auf eine Gerhard Polt-Einspielung folgt, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Jene Polt-Platte hatten wir seinerzeit rauf und runter gehört. Vielleicht erschien mir der Song, den ich damals jedenfalls auf dem Zettel hatte, als gute Möglichkeit, neu nach vorn zu blicken, die Kassette also quasi nochmals neu zu starten. Auf alle Fälle ein total geiles Lied einer Band aus Frankfurt, die Single sieht man noch häufig viel zu billig auf Flohmärkten.

CLASH – Rock the casbah Scheißendreck, auch hier versagt mein Gedächtnis, warum… tut mir leid… Aber auf alle Fälle ein Song, den ich bis heute großartig finde…

RUDI – Time to be proud An die Bewandtnis dieses Songs erinnere ich mich aber zum Glück, das war einfach ein Ausdruck meiner Freude, als ich im September 1999 endlich in Berlin angekommen war – dass ich endlich den Sprung nach Berlin geschafft hatte, den ich mir schon so lang gewünscht hatte… Wenn ich daran denke, wie mir anfangs immer einer abging, wenn ich FreundInnen meine neue Adresse in Berlin aufschrieb…

SCATTERGUN – Wargames Scattergun hatten um 1999 ihre erste LP herausgebracht, eine Band, die ich in den späten 90ern durchaus verehrte. In Berlin angekommen, sah ich sie mir dann mal im Supamolly an, und lernte dadurch einen wirklich wunderschönen Konzert-Laden kennen, in dem ich mich dann auch häufiger herumtrieb. Dieser existiert ja bis heute, aber nach meinem Eindruck ist die Punkrock-Quote etwas zurückgeschraubt worden. Die Band, die live nochmal begeisternder war als auf Platte, existiert schon lang nicht mehr, dafür hab ich inzwischen mit Gitarrist Hardy guten und netten Kontakt…

QUETSCHENPAUA – UFO Der Heinrichplatz und die Oberbaumbrücke, immer wieder Themen von Quetschenpaua in seinen Lobliedern auf die militant-alternativen Kieze in Berlin. Im Jahr 2000 erlebte ich meinen ersten 1. Mai in Kreuzberg, Freundin Heike zählte bei ihrer Nachricht auf dem AB alle Leute auf, die am Vormittag bei der Gegen-Demo zum Nazi-Aufmarsch eingefahren waren… Ich habe die Texte von Quetschenpaua damals gern gehört – sollt ich mal wieder rein hören…

INFA RIOT – Emergency Ah nee, ich denk mal, einfach ein weiterer Song, den ich damals ohne weitere Bedeutung viel gehört habe. Bis heute ein absoluter Abräumer – und womöglich das einzig richtig überzeugende Lied dieser Band, das ja zudem noch nur eine Cover-Version ist…

ELEGANT – Menschen in Beton & Stahl Der empfundene Soundtrack zu dem, was ich damals vor mir gesehen habe, auch wenn das Lied eigentlich von 1982 ist. Wenn ich nur an den Kohlen-Keller in unserem Haus denke, das von einem Gast mal als „Abbruch-Haus“ tituliert wurde: „Was sind das für viele Türen, keiner weiß wohin sie führen“… Wobei weniger „Stahl“ angesagt war, als bröckelnder Beton und generell Bauwerke, die ihre besten Zeiten lang hinter sich gelassen zu haben schienen.

LEATHERFACE – Springtime Nochmal Leatherface, nochmal Erinnerungen an ein Konzert im Wild at heart, und nach dem Verlust eines Freundes ging irgendwo doch ein neues Licht auf, „a little bit of springtime in my mind…“ Bis heute DAS Lied von Leatherface für mich, Gänsehaut inclusive.

RAZZIA – Als Haus wärst du ne Hütte Ein Lied, das damals auf nahezu jedes Haus in Friedrichshain, und auch noch auf viele im Prenzlauer Berg zutraf: eigentlich waren es größere Hütten… Baufällig, abbröckelnder Putz, ohne anständige Heizungen, die Haustüren immer offen… aber es lebte sich schön, in diesen Provisorien. Zumindest eine Zeit lang; Ich erinnere mich durchaus, dass es mir irgendwann zu bunt, nein, aber zu provisorisch geworden und ich 2002 in eine Wohnung mit Zentralheizung nach Kreuzberg geflohen war…
(dass ich Razzia Ende 1999 live im legendären Eimer sehen konnte, hatte mit dieser Nominierung auf diese Kassette – glaube ich – weniger zu tun, mit dem damals neuen Sänger gefielen sie mir nicht allzu gut)

NOGU SWELO – 280 dnej Der Anfang von Seite B bringt mich aber sogleich wieder zurück nach Friedrichshain. Ich sehe mich an meinem Schreibtisch sitzen und nach draußen auf den trüben Hinterhof blicken. Es schneit, und irgendwelche Leute aus dem Vorderhaus ziehen um, oder tragen jedenfalls ihre Sachen durch den Hof. Das zunächst sehr gleichförmige, melancholische Lied dieser russischen Band, das schließlich in geilem Geschreie endet, lässt mich an Szenen denken, wie ich sie in Filmen über den sibirischen Winter gesehen habe…

KUSCHELWEICH – Ahzuroh Hoho, nach dem Auszug meines Freundes Sandro nach drei Monaten in eine Einzimmer-Wohnung feierte ich vor Erleichterung eine großartige Party-mit-mir-selbst mit Kopfhörern auf den Ohren. Es blieb nicht aus, dass hin- und hergesprungen und durchs Zimmer getobt wurde. Der gute Mensch, der unter mir wohnte, meinte, ich würde mir zu spätabendlicher Zeit ein neues Bett zimmern, klingelte und rief bei mir an, aber ich hörte ihn natürlich nicht. Viel später fand ich dann seine überraschend freundliche Beschwerde vor, die er mit exakt den Worten auf den AB gesprochen hatte, die auch die TOTEN HOSEN 1990 als Intro für ihren Song „Azuroh“ genommen hatten. Als Vollblut-Punkrocker nahm ich aber natürlich die Version von einer unbekannteren Band auf dieses Tape…;-)

FREE YOURSELF – Quella Ick wees es nich mehr… einfach ein saugeiles Lied einer griechischen Hardcore-Band. Geiles, direktes nach-vorn-Gebretter!

RAZORS – Enemy Ebenso… ein geiles Lied, das mir später sogar mal dabei half, meine Flugangst zu verringern. Ich meine, dass seinerzeit eine Nachpressung von RAZORS erschien, und mir das Lied deshalb damals präsent war. Am Rande wundere ich mich aber, dass ich Lied einer anderen Hamburger Band nicht auf die Kassette genommen habe, das ich seinerzeit oft mit einem Schmunzeln habe laufen lassen: „Ich sitz in meiner Bude, da ist es höllisch warm“… (was natürlich nur selten der Fall war): BÄRBEL – Im Flur.

BOXHAMSTERS – Es regnet Wohl einfach aus der Freude heraus uffjenomm, weil ich die Boxhamsters im Jahr 2000 endlich mal live sehen konnte. Geiles Konzert im Tommyhaus, wobei mich persönlich das Getue der Vorband Tomte ziemlich nervte. Boxhamsters sind damals, glaube ich, leider auch schleichend in diese Richtung abgedriftet, was ein Jammer um eine großartig-dynamische Band mit intelligenten Texten. Und dann so’n Geseier machen… ich hasse es…

BEATLES – I wanna hold your hand Haha, böse Zungen meinten damals, ich hätte sonst nur Punkrock im Haus, und die Beatles-Kassette sei die einzige Nicht-Punkrock-Kassette, die es bei mir gegeben hätte. Vielleicht 100-mal habe ich diese mit zwei damals sehr engen Freundinnen gehört…

RANTANPLAN – Unbekanntes Pferd „Unbekanntes Pferd, lauf heim…“. Der letzte Song einer „Kiez-Disco“ im Zielona Gora, aus der wir morgens um 6 in die eisige, schwefelige Friedrichshainer Nacht stolperten. Gänsehaut bis heute - aber nicht etwa wegen der Gedanken an die vorherrschende Kälte…

SEX PISTOLS – Rock’n’Roll Swindle Ein großartiger Film, der mich bereits 1989, als er bei Tele 5 lief, schwer beeindruckte. Wie aufgebrachte Eltern gegen das Konzert einer Band protestierten, aus Sorge um ihre Kinder. Von Malcolm McLaren natürlich gekonnt ausgeschlachtet. Im Kino Durchs Fenster sah ich den Film um das Jahr 2000 herum das zweite Mal. Und wieder fand ich ihn… grooooßes Kino!

FLUCHTWEG – Berliner Luft Langsam näherte sich die Spielzeit dieser C90 ihrem Ende zu. Zeit für etwas melancholischere Klänge, die aber zugleich auch genau passend zum Thema waren. Fluchtweg besingen hier u.a. die „Stalin-Allee“. Als ich zum ersten Mal die Karl-Marx-Allee mit ihren mächtigen Bauten sah, wusste ich sofort: das muss die Stalin-Allee sein. Und genau wie es Fluchtweg besangen, war sie nachts besonders beeindruckend. Und „Pommes-Nebel“… na klar, auch die gehörten zur Luft der Berliner Nächte. Eine Band, die ich sehr gern gemocht habe. Die letzten paar Geschichten von ihnen waren dann aber sehr glatt und flach.

FRONTKICK – Danger „Pat und Patachon“ sah man seinerzeit häufiger über Berliner Flohmärkte laufen. Das waren der riesengroße Gitarrist Marty, meist noch mit Irokesen-Frisur, und der kleinere, aber reichlich dicke erste Sänger von Frontkick, der allzuschnell wieder zurück nach Spanien ging. Die erste 7“ ist noch mit dem alten Sänger, und in der Formation sah ich sie auch mal live im Koma F. Das hatte mehr Biss als die später sehr glatt gewordene Band…

EA 80 – Auf Wiedersehen Hier sagt der Text alles über eine Vorstellung, einen damals leider verstorbenen engen Freund einmal wieder zu sehen. „Es ist schon spät, und alles, alles ist gesagt, alle Geschichten sind erzählt. Sicher werden wir uns einmal wiedersehen, wie es gestern schon geschah. Dann werden wir erzählen, bis tief in die Nacht, von Abenteuern, und Herzen, die man brach. Doch wir kennen und so gut und wir wissen genau – nichts von alledem ist wahr!“ R.I.P.

LEATHERFACE – Message in a bottle Und tief versunken in der Melancholie… „I’m sending S.O.S. to the world - I hope that someone gets my message in a bottle“…

Tief gerührt verneige ich mich vor euch, verehrtes Renfield-Publikum, und stelle mir euren minutenlangen Beifall vor. Danke schön. Ein Freund arbeitet momentan daran, das Tape „ Wall City Rock. Learning Berlin Lesson 1, 1 ½ Jahre Berlin in 1 ½ Stunden“ zu digitalisieren, um es sicher für die Nachwelt zu erhalten.

Andi Kuttner