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Dienstag, 15. März 2016

Wüste Vielfalt

Die größte Wüste Deutschlands liegt 95 Kilometer südöstlich von Berlin bei Lieberose. Sie ist gerade mal fünf Quadratkilometer groß. Somit gar kein Vergleich, was man an Wüste in der Sahara, der Mongolei oder Nordamerika zu sehen bekommt. Man lebt hierzulande also eher selten in der Wüste. Trotzdem gibt es auch hierzulande jede Menge Bands, die sich ohne weiteres dem Genre Desert-Rock zuordnen würden.

Um ein bestimmtes Konzept von dieser Landschaftsform zu haben, muss man also nicht zwangsweise in einer Wüste leben. Vielmehr scheint der Begriff der Wüste eine Dimension zu haben, deren Eigenschaften oft genug in Filmen und Songs vermittelt wird. Hitze bei Tag, Kälte bei Nacht, Dürre, wenig Vegetation, Fata Morgana, insgesamt eher lebensfeindliche Bedingungen, die sich schnell mal auf Bewusstsein und Wahrnehmung auswirken können. Und natürlich das Bild des schweigsamen Desperados, der auf seinem klapprigen Gaul durch diese unwirtliche Landschaft trottet. Um das Bild in den Kopf zu bekommen, braucht es keine Wüste vor der eigenen Haustür.
Aber wie machen Menschen Musik, wenn sie dauerhaft in solcher Umgebung leben? Klingt das doch anders, vielleicht sogar authentischer? XIXA stammen aus Tucson, Arizona und da ist man täglich garantiert mit mehr Wüste konfrontiert als hierzulande. Weshalb es kein großes Wunder ist, dass die aride Atmosphäre ihrer Heimatstadt auch eine große Rolle im Konzept ihrer erste Platte „Bloodline“ spielt. Diese Atmosphäre lässt sich allerdings oft nur recht unscharf nachzeichnen. Viel konkreter ist dagegen als Einfluss die räumliche Nähe zur Mexiko (Tucson ist gerade mal 40 Meilen von der mexikanischen Grenze entfernt) sowie die Herkunft der Bandmitglieder zu benennen.

Als Musiker mit mexikanischen Wurzeln, die in der 2. und 3. Generation auf der US-amerikanischen Seite der Grenze leben, kennen XIXA vieles, was auf sich auf beiden Seiten der Grenze abspielt. Da treffen Psychedelic und Indierock auf das, was mexikanische Einwanderer schon seit Generationen als musikalischen Background mit hinüber in den Norden transportiert haben: Cumbia, das dazugehörige Subgenre Chicha, Latino-Sounds, Mariachi und Tex-Mex. Für einen aggressiven Clash der Kulturen ist es wahrscheinlich viel zu heiß, also erfolgt der Austausch auf subtilere Art.

Im Falle von Bloodline ist dabei keine kitschig-trashige Tex-Mex-Platte im Sinne von Freddy Fender rausgekommen, sondern eins, dass in seiner Art eher an Calexico erinnert. An Calexico, die sich im Peyoterausch ein paar Rocky-Ericsson-Platten anhören und dabei alles mögliche ausprobieren. Mal verfällt die Band in einen Cumbiarhythmus, der mit einer gewissen Indie-Slackerhaftigkeit verkleidet wird (Golden Apparition, Nena Linda). Mal zieht das Tempo so an, dass man sich vergewissern muss, ob man nicht eine Platte von Tito&Tarantula eingelegt hat (Pressures of Mankind). Auch als Soundtrack zu einem Jim-Jarmusch-Film oder dem etwas vergessenen Drogenwestern Blueberry und der Fluch der Dämonen, der auch mit allerlei grenzüberschreitenden Sinneserfahrungen hantiert, würde sich ein Song wie Living on the Line gut machen.

In all diesen Puzzlestücken steckt diese soundtrackhafte und unheimliche Atmosphäre, wie sie auch Käuze wie Nick Cave oder Hugo Race besonders gut hinbekommen. Und wo kommen diese beiden her? Aus Australien. Was gibt es da en masse? Wüste. Vielleicht ist es Zufall, andererseits auch schon interessant, dass sich die Atmosphären doch ähneln.
Ganz gezielt haben die Band der Giant-Sand-Mitglieder Brian Lopez und Gabriel Sullivan die Kooperation mit einem Musiker gesucht, dessen Musik ebenso vom Leben in der Wüste geprägt ist – nur in ganz anderen Breiten Als Bruder im Geiste steuert Sadam Iyad Imarham von der Tuareg-Band Tinariwen die Lyrics zu der musikalisch etwas schächelnden Ethnoballade „World goes away“ bei. Das passt aber immer noch so gut ins Gesamtbild, dass es scheint, als wäre die Wüstenmentalität über Kontinente hinweg kompatibel.

Angesichts der gegenwärtigen Lage hierzulande, könnte man mal ein Gedankenspiel starten und dabei vergleichen, was in zwei bis drei Generationen an Musik rauskommt, wenn die Kinder der jetzt in Deutschland ankommenden Flüchtlinge ihre eigene musikalische Identität entwickeln: Zwischen der Musik, die ihre Eltern aus dem Nahen Osten mitgebracht haben und dem was ihnen hier musikalisch und kulturell begegnet. Ganz neu ist diese Idee natürlich nicht, schaut man auf die Nachfolgegenerationen der Migranten, die seit den 60er-Jahren hier hergekommen sind und seitdem auf ihre Weise alle möglichen kulturellen Einflüsse rezipieren.

Auch lässt sich argumentieren, dass dank Internet und diverser weltumspannender Videokanäle eh alles nur noch ein Brei ist und sich somit jeder dank der immer gegebenen Verfügbarkeit alle möglichen Einflüsse ultra-authentisch draufschaffen kann. Wenn es aber den, in den letzten Jahren hier Angekommenen gelingen sollte, ihre musikalischen Wurzeln mit den Einflüssen der Umgebung zu sein, in der sie jetzt nun einmal leben, dann könnte es vielleicht in ein paar Jahren auch hierzulande ähnlich vielfältige Gruppen wie XIXA geben. Und das kann eigentlich nur spannend werden.

(D - auf der alphabetisierten Plattenbewertungs-Skala des Renfield-Zines)

„Bloodline“ von XIXA ist auf Glitterhouse Records erschienen.

Gary Flanell

xixamusic.com glitterhouse.com

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